Rückblick
In langjähriger Freundschaft verbunden: Schriftsteller Jan Koneffke (links) und der Luzerner Künstler Niklaus Lenherr.
Die Liebe in prekären Zeiten
Ein Geschichtsbuch ist es nicht, auch keine Biografie: Doch wenn Jan Koneffke in seinem Roman «Im Schatten zweier Sommer» erfundene Geschichten mit der Weltgeschichte verknüpft, so ergibt eins und eins mehr als zwei: Es entsteht wunderbare Literatur, in der Fakten und Fiktion einen Mehrwert hervorzaubern. Zentrale Figuren sind der reale Dichter Joseph Roth und die erfundene Fanny Fischler. Roth, der 19jährige Student mit nationalistischen Ideen, und Fanny, die 17jährige jüdische Tochter eines Wiener Schusters, erleben erste zaghafte Liebesmomente, wobei Roths Annäherungsversuche durchaus den draufgängerischen Charakter des späteren Erfolgsautors vorwegnehmen. Es sind Geschichten in Zeitenwenden: Eine Epoche geht zu Ende, während gleichzeitig zwei junge Menschen in eine neue Lebensphase eintreten und sich dann später wiederbegegnen, im mittleren Alter und zu Beginn eines neuen Krieges. Roth ist bereits ein durch Alkoholabusus gezeichnetes Wrack, «das Gespenst seiner besseren Tage», doch die Liebe kann jetzt noch eine kurze Zeitlang ausgelebt werden bis zum bitteren Ende.
Wie dieser Stoff zu Jan Koneffke kam, erzählte er gleich zu Beginn seiner Lesung, der die Zuhörenden mucksmäuschenstill lauschten: Als der Autor und seine Frau 2003 von Rom nach Wien an die Rembrandtstrassse 25 umzogen, war ihnen noch nicht bekannt, dass Joseph Roth 1914 im selben Haus Zimmerherr bei den Fischlers war. Durch einen Zufall erfuhr Koneffke dies aus einer Donau-Biografie von Claudio Magris. So entsteht neue Literatur. Natürlich gehört dann noch viel Recherchearbeit dazu, die auch Sprachforschung beinhaltete. Jiddische und wienerische Ausdrücke tragen zur Farbigkeit der Erzählung bei. Entstanden ist ein äussert raffinert aufgebautes Buch, mit einer erfundenen Genauigkeit, die verblüfft und die einen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann. Eine feine Ironie durchzieht dieses Kunststück, das uns Roth mit seinen Abgründen lebendig macht. Doch die Lieblingsfigur, in die sich der Autor beim Schreiben verliebte, wie er gestand, ist Fanny, die starke und selbstbewusste Frau. Und immer wieder werden wir an unsere Gegenwart erinnert, an die prekäre momentane Weltlage.
Dass Jan Koneffke bei der Literaturgesellschaft las, ist dem Luzerner Künstler Niklaus Lenherr zu verdanken: Die beiden lernten sich in den neunziger Jahren in Rom kennen, blieben freundschaftlich verbunden. Und so war es naheliegend, dass Lenherr diesen Abend moderierte, dem wortgewandten Koneffke die Stichworte lieferte, die dann einen vertieften Einblick in sein literarisches Schaffen ermöglichten. 15 Bücher umfasst das Werk des in Wien und Bukarest lebenden Autors, der auch als Übersetzer und Filmemacher tätig ist.
Einmal mehr zeigte sich, dass es auch ausserhalb von autofiktionalen Erzählungen oder faktenbasierten Biografien eine Gattung Literatur gibt, die uns unterhaltsam, geistreich und sprachlich hochstehend in eine vergangene Welt entführen kann, in der wir mehr über uns und unsere Sehnsüchte und Abgründe erfahren.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Claudia Quadri liest, Ruth Gantert hört aufmerksam zu.
Meditieren mit den Füssen am Fusse des San Salvatore
Es sind jeweils die kleinen, feinen Abende, wenn die LGL eine Autorin, einen Autor von jenseits des (schweizer)deutschen Sprachraums zu Gast hat. So begrüsste LGL-Präsidentin Regula Jeger diesmal die Tessiner Autorin und Filmregisseurin Claudia Quadri. Die in Lugano wohnhafte Quadri erhielt dieses Jahr bereits zum zweiten Mal den Schweizer Literaturpreis des Bundesamts für Kultur BAK für ihren neusten, diesmal autobiografischen Roman «Infanzia e bestiario». Ruth Gantert, die äusserst versierte und blitzschnell zusammenfassende und übersetzende Moderatorin der zweisprachigen Lesung, stieg gleich mit der Frage nach dem Unterschied zwischen dem Filmemachen und dem Schreiben ins Gespräch ein. Der Film als Teamarbeit brauche viel mehr Organisation und Planung, während das Schreiben einsame Arbeit und ein offener Prozess mit ungewissem Ausgang sei, so Claudia Quadri.
Der erste Teil der Lesung war dem Roman «Suona, Nora Blume» (deutsch: «Spiel, Nora Blume») gewidmet. Es ist die Erzählung über eine etwas forsche und frustrierte Klavierlehrerin, die ihrer Schüler eigentlich überdrüssig ist. Doch während neben ihrem Garten ein Neubau hochgezogen wird, fallen langsam die inneren Mauern, hinter die sie sich zurückgezogen hat. Lächelnd gestand Quadri, dass die erfundene Nora Blume nicht ganz frei von eigenen Charakterzügen sei. Viel Metaphorik und Witz zeichnen die Geschichte aus, in der bereits ein Hund eine wichtige Rolle spielt.
Ein Hund namens Wisky bekommt dann im neusten Werk eine zentrale Rolle. In «Infanzia e bestiario» begleitet ein Hund namens Wisky die erzählende «Anthropologin» auf ihren Spaziergängen rund ums Familienhotel in Lugano-Paradiso am Fusse des San Salvatore. Es ist eine Suche nach verlorener Zeit mit dem frischen, neugierigen Blick eines Kindes. Das Buch ist aber auch die melancholische Chronik über Veränderungen und über den Verlust der Vielfalt, zum Beispiel in der Tierwelt. Auch in diesem neuen Buch setzt die Autorin viel subtile Metaphorik ein, um den Wandel sichtbar zu machen. Spazieren sei «Meditieren mit den Füssen» hat Claudia Quadri gesagt. Das genaue Hinschauen widerspiegelt sich auch in der bildhaften, präzisen und facettenreichen Sprache dieser Momentaufnahmen. Paradiso ist nicht mehr das Paradies aus der Kindheit und die Kindheit als Kind von vielbeschäftigten Hoteliers war nicht nur ein Paradies.
Zum Schluss des sehr eindrücklichen Abends betonte Claudia Quadri, wie wichtig es für die Schreibenden aus den sprachlichen Minderheiten ist, dass ihre Bücher in die andern Landessprachen übersetzt und zur Kenntnis genommen werden. Der Lesung mit Claudia Quadri und Ruth Gantert hat gezeigt, dass «Ausflüge» in andere Sprachregionen äusserst bereichernd sind und dass – in diesem Fall – das Interesse an Schweizer Literatur nicht am Gotthard stecken bleiben darf.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
18. Oktober 2024
Hanspeter Müller-Drossaart verleiht seinen Texten Leben, musikalisch begleitet von Peter Gisler.
Wenn das Hiäsige welthaltig wird
War das nicht ein abgewandelter und verwandelter Betruf, der den Beginn dieses begeisternden Abends einleitete, gespielt, gestrichen und gezupft von Peter Gisler? Die Stimmung war somit jedenfalls gesetzt, die Literatur verortet: Doch genau der erste Text, den Hanspeter Müller-Drossaart las, deklamierte, rezitierte, interpretierte war nicht in einem der uns halb vertrauten Innerschweizer Idiome, sondern im Südtiroler Dialekt, also nicht aus der hiesigen Heimat des gebürtigen Obwaldner Schauspielers und Schriftstellers. Natürlich beherrscht er auch den österreichisch gefärbten Südtiroler Dialekt perfekt, spielt er doch seit vielen Jahren im Bozen-TV-Krimi einen Polizisten.
Es gab Besinnliches und Lustiges, Alltägliches und buchstäblich Legendäres zu hören, aufgeschnappte Dialoge und erfundene Geschichten. Immer hochpräsent war jedoch die ungeheure Farbigkeit der hiesigen Dialekte, des Wortschatzes und der Musikalität, die unsere Innerschweizer Mundarten auszeichnet. Müller-Drossaart verlieh den Worten Leben, vitalisierte die Sprache, fügte durch Mimik und Gestik dem Geschriebenen eine neue Dimension dazu. Sagenhaft etwa die Toggeli-Sage, die wie auch andere Texte in einer überraschenden Pointe endet und die vielen Zuhörenden mehr als nur diskret schmunzeln liess.
Wunderbar auch die Texte, in die der Kontrabassist und Harmonikaspieler Peter Gisler – von Müller-Drossaart als Schächentaler-Vivaldi gerühmt – dialogisch einbezogen war, sich Musik und Worte zur gewollten Unverständlichkeit überlagerten und erst recht eine dringliche «Botschaft» ins Publikum trugen.
Es war ein leichter Abend, der zeigte, dass auch schwierige und schwere Themen durchaus unterhaltsam verpackt werden können. Doch dazu braucht es einen Könner, der das Ohr für Geschichten, das Gespür für sprachliche Finessen hat und auch die schauspielerische Performance meisterhaft beherrscht.
Hanspeter Müller-Drossaart hat uns lautmalerisch Hiäsigs, Ungehörtes und Unerhörtes mitgebracht und uns daran erinnert, dass es auch andernorts Hiäsige gibt: So subtil kann ein Mundarttext Politisches anklingen lassen. Und die vermeintlich kleine Innerschweizer-Betrufwelt wird plötzlich ganz gross.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Übrigens: Wer das Buch kauft, kann über einen QR-Code Hanspeter Müller-Drossaart die Texte lesen hören.
Moderator Pablo Haller und Autorin Judith Keller.
«Ein Tag für alle» und ein anregender Abend für dreissig Interessierte
Mit Freude begrüsst Regula Jeger, die Präsidentin der LiteraturGesellschaft Luzern, zur ersten Lesung des zweiten Halbjahrs und stellt dem Publikum zwei erfrischende Stimmen vor: die vielfach ausgezeichnete Autorin Judith Keller, deren dritter Band «Ein Tag für alle» in der «edition spoken script» (Verlag «Der gesunde Menschenversand») eben erschienen ist. Schön, dass Luzern, Standort des Verlags, zu einer Avant-Premiere kommt, was natürlich den auch anwesenden Verleger Matthias Burki sehr freut. Moderiert wird das Gespräch von Pablo Haller, Schriftsteller, Performer, Mitorganisator des Spoken Word Festivals «woerdz»; ob, wie er sagt, Judith Kellers Kurz- und Kürzestgeschichten einen «durch einen Spalt in ein Anderswo linsen lassen»?
Der erste ihrer 98 Texte, «Prolog», gibt den Ton vor:
«Ein Schwarm von Baustangen war gelandet auf der schilfigen Fläche des Tals. Ein Schwarm von Baustangen war gelandet auf der Siedlung neben dem Wald. Ein Schwarm von Baustangen war gelandet auf den Hallen der alten Fabrik. Und überall sah man sie brüten.»
Als Ordnungsprinzip ist der Tagesverlauf zu erkennen, von der Dämmerung frühmorgens bis nach Mitternacht. Die Autorin liest eine erste Sequenz von Texten, bis Odile, man könnte sie eine Art Protagonistin nennen, am Nachmittag «in ein tiefes Schaf» fällt.
Auf die Frage des Moderators, wie sie erkenne, welche Texte funktionierten, gibt Judith Keller Einblick in ihre Schreibpraxis. Sie nimmt ein dickes Schreibheft hervor, in welchem sie Sätze, Gedanken notiere. Mit viel Abstand schreibe sie diese ab, verändere sie beim Kopieren, einige seien sofort fertig. Hingegen sei die Arbeit am Roman völlig anders, da werde ein Text immer länger.
Von ChatGPT – mehr spasseshalber zu Judith Keller befragt – hatte Pablo Haller von einem (nicht existierenden) Titel «Wie weiter?» erfahren. Immerhin, in ihrem Roman «Wilde Manöver» frage eine Figur immer wieder «Und jetzt?», erwidert die Autorin amüsiert. Als Vorbilder nennt sie Adelheid Duvanel, Ilse Aichinger, Franz Kafka, Franz Hohler.
Die Autorin hat Stapelchen von Texten vor sich, wählt mit Bedacht, man könnte es in Anlehnung an Kleist eine «allmähliche Verfertigung der Auswahl beim Lesen» nennen.
Damit plastischer wird, mit welchen sprachlichen und erzählerischen Mitteln die feinen Effekte erzielt werden, hier zwei Beispiele:
Wunsch
Leonor möchte emotional nicht immer alle abholen. Warum kommen sie nicht selber?
Leonor
Leonor gelingt es nicht, die Leute abzuholen. Sie wäre aber bereit, sie zu empfangen.
Judith Keller nennt die Sprache ein Instrument, das uns erlaubt zu verstehen, dass wir vieles nicht wissen, was sie als durchaus tröstlich empfindet. Wie es mit dem Schreiben weitergeht? Sie kann es nicht sagen; nach den Kurztexten wieder ein Roman? Auf jeden Fall Notizen in ihrem Schreibheft.
Felicitas Spuhler (Text), Marco von Ah (Bild)
Rebekka Salm: Hakenschlagende Geschichten
Geschichten erzählen, deren Wahrheit aber schleichend und subtil wieder in Frage stellen: Das ist die poetologische Methode in Rebekka Salms neuestem, dem zweiten Roman «Wie der Hase läuft». Wie ihr dieses literarische Hakenschlagen meisterhaft gelingt, zeigten die Lesung und das Gespräch mit Angelika Overath bei der letzten LGL-Veranstaltung vor der Sommerpause.
In einer ausführlichen Einleitung stellte Angelika Overath «die kometenhaft aufgestiegene Baselbieter Autorin» und ihr neustes Buch vor, hob hervor, wie Rebekka Salm «aus der dörflichen Binnenexotik mit einer wilden Stimme grosse Themen» hervorzaubere. Die beiden längeren Lesungen bestätigten die Ankündigung: Hier ist eine neue Stimme zu hören, die mit Raffinesse und Klugheit die Lesenden mit ihrer Geschichte buchstäblich verführt, in 34 Kapiteln hineinzieht in ein Gesamtbild, das sich dann am Schluss als Trugbild erweist. Zusammen mit der Autorin setzen wir ein Puzzle zusammen, die einzelnen Teile sind durchaus glaubwürdig und faktenbasiert, aber stimmt das Ganze tatsächlich? Ist es die Wahrheit oder haben wir uns diese nur «zusammengebastelt»: «Komplett allein muss noch nicht wahr sein», hat Rebekka Salm im Gespräch gesagt.
Ausgangspunkt dieses raffinierten Spiels mit «Story und History» ist eine Familiengeschichte, in der es «Löcher» gibt, Ungesagtes, Verschwiegenes, auch nicht mehr Erfahrbares. «Müssen wir überhaupt alles wissen und können wir sicher sein, dass alles stimmt, was wir zu wissen glauben?» Grosse Fragen, die Rebekka Salm nicht philospohisch-theoretisch abhandelt, sondern in Geschichten umsetzt. So wie der Hase als Leitmotiv Haken schlägt, funktioniert auch unser Erinnern: Täuschungen sind inbegriffen, ebenso Verklärungen und Gedächtnislücken. Das alles passiere vermutlich in jeder Familiengeschichte, denn «wir sind alle nicht so heilig, wie wir vielleicht glauben». Gerade deshalb liebe und verstehe sie ihre Figuren, sagte Salm.
Dass Rebekka Salm auch im mündlichen Erzählen zu begeistern vermag, zeigte sich im angeregten Gespräch zwischen und nach den vorgelesenen Textstellen. Charmant, wortgewandt und humorvoll sprudelte es aus der Autorin. Dahinter stecke ein «Geschichten generierender Blick», bemerkte treffend die Moderatorin. Rebekka Salm nahm das Kompliment dankend auf und erwiderte, sie werde es in ihr Tagebuch notieren. Neben dem Tagebuch schreibt sie bereits an einem weiteren Roman. Dieser werde linearer sein als der hakenschlagende Zweitling. Er spiele auf dem Flughafen, es gehe ums Abschiednehmen von einer dementen Person, die nach Thailand auswandere. So viel mochte sie verraten.
Und dann nahmen wir in der Schweizerhof-Lobby Abschied von einer jüngeren Autorin, die zurück an ihren Wohnort, die Kleinstadt Olten, reiste, wo zweifellos weitere Geschichten warten. Und wir warten gespannt auf das nächste Werk, immer noch mit der Frage im Kopf: Machen wir die Geschichten oder machen die Geschichten uns?
21. Juni 2024 – Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Zwei, die sich bestens verstehen: Schriftsteller Matthias Zschokke und Literaturkritiker Manfred Papst.
Literatur (fast) ohne Hintergedanken
Sie sassen zum ersten Mal gemeinsam vorne bei einer Lesung: Matthias Zschokke, in Berlin lebender Schriftsteller, und Manfred Papst, pensionierter Kulturchef der «NZZ am Sonntag», der mit einfühlsamer Neugier Fragen stellte und ins Werk einführte, insbesondere in Zschokkes neusten Roman «Der graue Peter».
«Literatur ist das, was in der Zusammenfassung verloren geht», hat Papst in einer seiner Kolumnen geschrieben. Durch die Lesung und das Gespräch wurde also Verlorenes an diesem Abend sicht- und hörbar gemacht. Motive und Themen wurden aufgedröselt. Erlebbar wurde so ein komplexes Werk, auch wenn der Autor gerade die Einfachheit betonte. Schon beim Schreiben sei es ihm wichtig gewesen, diesmal eine Geschichte zu erzählen ohne das Mäandrierende, das frühere Bücher auszeichnete. Doch gerade durch diese formale Absicht sind die Leserinnen und Leser herausgefordert, und auch die Geschichte selbst führt zu dauernden Irritationen. Das Unerwartete beginnt schon in den ersten Sätzen, als dem grauen Peter mitgeteilt wird, dass sein Sohn bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Er regiert nicht mit Bestürzung, sondern mit Bagatellisierung und Verdrängung. Aber wissen wir, wie wir selber reagieren würden in einer Extremsituation? Wir glauben bloss zu wissen, wie man regieren müsste.
Der Autor spielt virtuos mit Erwartungshaltungen, um gerade diese zu unterlaufen. Was passiert zwischen dem grauen Peter und dem achtjährigen Zéphyr mit der orangen Schwimmweste, der ihm durch einen Zufall für eine Eisenbahnfahrt anvertraut wurde? Schon ertappen wir uns bei Hintergedanken.
Zschokke zelebriert eine Kaskade von teils absurden Einfällen, entwickelt Geschichten aus Geschichten, der graue Peter gewinnt zunehmend an Farbe. Im Gespräch vergleicht er seine Schreibmethode mit Fischli/Weiss’ Film «Der Lauf der Dinge». Das eine ergibt sich aus dem andern, will aber nicht mehr sein, als was es vorgibt. Literatur ohne Hintergedanken. Doch wir als Lesende, die den Text erst vervollständigen, müssen uns immer wieder lösen von vorschnellen Einordnungen und Vorurteilen. Was bleibt, ist dann eben nicht die Zusammenfassung eines durchschnittlichen Lebens, sondern ein literarischer Balanceakt, leichtfüssig und tiefsinnig, einfach und komplex, ernst und ironisch. Kurz: ein Text, den nur menschliche Intelligenz hervorbringen kann.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Esther Schneider und Milena Michiko Flašar.
Durch den Tod zum Leben gefunden
Die vordergründige Handlung mag ja auf den ersten Blick abschreckend wirken. Doch hintergründig sind genau an dieser Schnittstelle, an der das Leben auf den Tod und Lebendige auf Tote treffen, so viele universelle Themen verhandelbar, die grosse Literatur ermöglichen.
Das zeigte sich eindrücklich bei der Lesung und im Gespräch mit der österreichisch-japanischen Autorin Milena Michiko Flašar vor gut 70 Interessierten im Schweizerhof. «Oben Erde, unten Himmel» heisst ihr fünfter Roman, der letztes Jahr bei Wagenbach erschienen ist. Schon die Irritation des Titels führt mitten in die Thematik, die hinter der Handlung liegt. Eine junge Frau, Suzu, die mit ihrem Hamster das Alleinsein zelebriert, verliert ihren Job als Kellnerin. Auf der Suche nach einer neuen Stelle landet sie bei einem Reinigungsinstitut. Dieses ist darauf spezialisiert, Wohnungen zu räumen, in denen Verstorbene oft tage- oder wochenlang unbemerkt gelegen haben. Aus dieser Situation heraus entwickelt Flašar die existenziellen Themen.
Der hervorragend vorbereiteten Moderatorin Esther Schneider gelang es wunderbar, zusammen mit der Autorin diese Themen einzukreisen und zu vertiefen. Wie begegnen wir dem Tod, dem fremden wie dem eigenen? Wo kippt das freiwillige Alleinsein in die schmerzhafte Einsamkeit? Was hinterlasse ich, wenn ich nicht mehr da bin? Und über allem natürlich steht letztlich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Durch die Arbeit bei den Verstorbenen beginnt Suzu ganz langsam an ihrem eigenen Lebensmodell zu zweifeln. Ihr bisheriges, den Menschen eher abgewandtes Leben, das so etwas wie Vorbereitung auf ein richtiges Leben war, erhält durch die Auseinandersetzung mit dem Tod und durch die Begegnung mit einem kranken Arbeitskollegen erstmals eine Sinnperspektive. «Sie findet über den Tod zum Leben», fasste Esther Schneider präzise zusammen. Darüber hinaus ging es im Gespräch auch um das spezifisch Japanische im Buch und die Einflüsse der japanischen Literatur auf das Schreiben, über Rituale, über den würdevollen Umgang mit Verstorbenen, über die Beseeltheit von Dingen wie zum Beispiel im Bild von der «Einsamkeit einer Mandarinenschale». Eindrücklich auch zu erfahren, dass der Ausgangspunkt des Romans ein einziges Wort war: Kodokushi. Dieses bezeichnet den einsamen Tod.
Die hervorragend gelesenen Textstellen zeigten auch, dass die thematische Tiefe durchaus auch in einem leichtfüssigen, oft sogar humorvollen Ton daherkommen kann. Damit werden scheinbare Gegensätze in Frage gestellt, manchmal ist der Himmel gar nicht oben, sondern schon auf Erden, und Leben und Tod sind keine unversöhnlichen Gegensätze. Und im letzten Satz des Buches kommt dann sogar ein Wir vor. Noch weitergedacht könnte es auch heissen. «Ich bin nicht mehr gerne allein. Zumindest nicht immer.» Vielleicht hat bald schon neben dem Goldhamster auch noch ein Mensch Platz. Ein Lebender.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Die Sprache als heimliche Protagonistin
Die LGL-Lesung vom 20. Februar brachte im vollbesetzten Salon 11 des Hotels Schweizerhof die Präsentation eines Erstlingswerks: Tine Melzer, Sprach- und Kunstwissenschaftlerin aus Zürich, las aus ihrem ersten Roman «Alpha Bravo Charlie». Das Publikum war davon sichtlich angetan.
Tine Melzer (Bild Marco von Ah)
Die Handlung in Tine Melzers Romanerstling «Alpha Bravo Charlie» ist einfach. Der Ich-Erzähler Johann Trost ist als ehemaliger Linienpilot seit kurzem pensioniert. Er blickt zurück auf eine schmerzhafte Scheidung und führt nun ein weitgehend einsames Leben, in dem er wie hinter Glas seine Umgebung beobachtet und beschreibt, und seine Zeit damit verbringt, auf seinem Küchentisch eine Modellbaulandschaft aufzubauen – eine wohlgeordnete Miniatur-Landschaft mit ihren Mini-Gegenständen und Menschenfigürchen, auf die er, wie früher im Beruf, aus sicherer Distanz hinabblicken kann.
Doch trotz der anscheinenden Banalität des Plots bietet der Roman eine ganze Reihe von hochinteressanten, originellen Besonderheiten. Drei davon seien herausgegriffen.
Mit ausserordentlichem Einfühlungsvermögen
Tine Melzer sprach bei der Lesung von einer gleichsam «pathologischen Empathie», die sie beim Schreiben bewege. Tatsächlich gelingt es ihr auf bestechende Weise, sich als Frau in die Ich-Perspektive eines Mannes zu versetzen und dessen Lebensumstände glaubhaft zu erfassen, die sich von den ihren fundamental unterscheiden. Mitten in den zahlreichen «Coming-of-Age-Geschichten», die derzeit den Buchmarkt prägen, ist ihr Buch eine, wie sie sagte, «Going-of-Age-Geschichte». Und auch literaturgeschichtlich und geschlechtsrollenspezifisch ist das Buch eine Umkehrung des klassischen Arrangements. Hier beschreibt nicht ein älterer Mann (wie Flaubert in «Madame Bovary», Tolstoi in «Anna Karenina» oder Fontane in «Effi Briest») eine jüngere Frau, sondern eine jüngere Autorin setzt sich mit dem Leben eines älteren Mannes auseinander – eine in der deutschen Literatur nach wie vor ungewöhnliche Konstellation.
Die Eigendynamik der Sprache
Tine Melzer ist von Haus aus Sprachphilosophin (sie hat über Wittgenstein promoviert). Das spürt man beim Lesen. Ihr Roman zeige, so sagte sie, dass Sprache «nicht wie Rohrpost» funktioniere. Das Kommunikationsmodell von Sender, Botschaft und Empfänger ist viel zu einfach, um der komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden. Anders gesagt: In der literarischen Kommunikation «entscheidet die Sprache mit, was gesagt wird.» Hans Beat Achermann, Vizepräsident der LGL und souveräner, kenntnisreicher und einfühlsamer Moderator der Lesung, wies auf die sentenzenhaften Sätze und die unkonventionellen Bilder hin, die den Erzählfluss immer wieder stoppen, und bezeichnete diese Einschübe (mit grosser Zustimmung der Autorin) sehr treffend als «Sätze mit Widerhaken». Tatsächlich verselbständigt und verdichtet sich die Sprache in solchen Momenten, was zwar die Lektüre nicht erleichtert, aber zu Reflexionen der Leserschaft in der verschiedensten Art Anlass gibt.
Die poetologische Dimension
Wie Trost am Schluss des Tages sein Landschaftsbild vollendet, so fügen sich die «Sprachspiele» (Wittgenstein) dieses anregenden Romans zu einem kompakten Ganzen: Das Schreiben des Romans durch die Autorin entspricht dem Bauen der Modell-Landschaft durch den Erzähler bzw. Protagonisten.
Hans Rudolf Schärer (Text)
Peter Stamm (links), zusammen mit Moderator Beat Mazenauer.
Peter Stamm: Nicht machen, sondern finden
Mit grosser Freude eröffnet die LGL ihr 11. Jahr mit Peter Stamm, einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller. Im Fokus des Gesprächs, kompetent und mit neugieriger Empathie moderiert von Beat Mazenauer, stehen drei Werke: der 2023 erschienene Roman «In einer dunkelblauen Stunde», der Dokumentarfilm «Wechselspiel – wenn Peter Stamm schreibt» und die am Vortag erschienene Poetikvorlesung «Eine Fantasie der Zeit»; welche Chance, den Roman und gleichzeitig zwei Making-ofs vorgestellt zu bekommen!
Zum Einstieg präsentiert Beat Mazenauer eine eindrückliche Liste von Tätigkeiten des Autors, von «Anglist, Architekt, Archivar» bis «Werbetexter, erfolglos». Tätigkeiten von Peter Stamm, aber auch jene seiner Figuren, was im Verlauf des Gesprächs teilweise aufgedröselt wird. Der Moderator folgt der Liebe Peter Stamms für Listen, welche in ihrer Schlankheit zeigten, wie wenig es für Literatur braucht.
Die Lesung des Romananfangs lässt uns eintauchen in die Figurenkonstellation: Über den schreibenden Protagonisten wird ein Film gedreht, nach den Szenen in Paris und Trouville befinden sich die Filmleute, Andrea (die Ich-Erzählerin) und ihr Kameramann Thomas, im Heimatort von Richard Wechsler (und Stamm): Weinfelden. Auf ihre Hauptperson wartend knüpfen sie Kontakte zu Menschen, welche in Wechslers Anfängen eine Rolle spielten, zum Beispiel zur jetzigen Pfarrerin Judith, einer Jugendliebe.
Die Poetikvorlesung erklärt, wie sich das alles entwickelt hat. Ob nicht die Gefahr bestehe, dass der Protagonist mit dem Autor verw e c h s e l t werde? Das sei kein Problem, meint Peter Stamm , weil jene, die ihn kennten, wüssten, dass Wechsler nicht Stamm sei, und für die grosse Mehrheit der Lesenden spiele das keine Rolle.
Wie sich seine Figuren entwickeln? Sie müssten sich selbst entwickeln in seinem Kopf, vielleicht ähnlich wie bei einem Schauspieler, der in andere Leben schlüpft.
Das relativ konsistente Milieu in seinen Texten erklärt Peter Stamm damit, dass er über das schreiben müsse, was er kenne oder wozu er einen Zugang habe. Diese Konstanz wertet Peter Stamm als Beweis dafür, dass er da sei, wo er sein müsse; er rede lieber mit der eigenen Stimme.
Wieviel Wahrheit ist im Dokumentarfilm? Erstaunlich viel – ein Spiel von Ebenen wie in seinen Büchern. Im Film spielt Peter Stamm nicht, beantwortet auch die Fragen im Interview ernsthaft.
Das Scheitern sieht der Autor als Teil der künstlerischen Entwicklung. Mit 20 stellte er sich vor, grossartige Bücher zu schreiben, merkte aber bald, dass er gar nichts mitzuteilen hatte. In der Zeit bis 35 war er auf anderen Gebieten erfolgreich, unter anderem als Journalist und «Nebelspalter»-Autor.
Zurück zum Roman: Im Gegensatz zu Texten von andern Autor:innen, wie z.B. Judith Kuckart, montiert Peter Stamm seine Texte nicht, sie entwickeln sich aus einem Samen, wie ein Körper. Der erste Satz, einmal gefunden, bleibt immer stehen, die Form bekommt der Text im Wachstum. Im vorliegenden Roman spielt der Zufall eine stärkere Rolle als je zuvor. Aus produktiver Langeweile, aus Momenten von Leere entstehen Ideen. Kern seiner Dankesrede für den Solothurner Literaturpreis: «Literatur kann die Wirklichkeit nicht ersetzen, aber sie kann – für mich als Autor und für meine Leserinnen und Leser – ein Instrument sein, ein Hilfsmittel, die Wirklichkeit klarer zu sehen. Das Sehen jedoch kann die Literatur uns nicht abnehmen.» «Eine Fantasie der Zeit», S. 76
Schreiben darf Spass machen, Lesen darf Spass machen, so Peter Stamm. Das beweist aufs Schönste die Passage aus dem Erstlesebuch «Theo und Marlen auf der Insel».
Auch erfreulich: Es scheint sich ein Zugang zu öffnen zu einem Projekt, an dem Peter Stamm schon ein Jahr «herumdoktert».
Ermutigung: «Schreiben ist zwecklos. Lesen ist zwecklos. Finden wir uns damit ab, und tun wir es trotzdem. Oder umso mehr.»
Regula Jeger, Präsidentin der LGL, gibt dem zahlreichen und begeisterten Publikum diesen Schluss von Peter Stamms Eröffnungsrede des Festivals Zürich liest 2015 mit auf den Weg.
Felicitas Spuhler (Text), Marco von Ah (Bild)
Christian Hallers Annäherungen an das Unsagbare
Er stand lange nicht im Zentrum des literarischen Betriebs. Jetzt, mit 80, ist alles anders. Als Gewinner des Schweizer Buchpreises 2023 erlebt Christian Haller eine Wertschätzung, auf die er allzu lange warten musste. Die Lesung und das Gespräch bei der LGL bestätigten den hohen literarischen Rang seines Werks und brachten den rund 50 Zuhörenden einen Menschen nahe, dessen Klugheit, Bescheidenheit und Schalk bereichernd und berührend waren. Dass sich Christian Haller dem Publikum öffnete, war nicht zuletzt auch das Verdienst der charmanten und kenntnisreichen Moderation von Eva Holz zu verdanken.
In seinem preisgekrönten Buch «Sich lichtende Nebel» erzählt Haller, wie die Theorie der Unschärferelation durch den Physiker Werner Heisenberg zustande kam: Aus einer alltäglichen Beobachtung wird eine weltverändernde Theorie. Es war dieser Prozess, der für Haller Anstoss für seine Novelle gab. Und daraus eröffneten sich weitergehende Themen und Fragestellungen, die aber nie auf theoretischer Ebene abgehandelt werden, sondern wunderbar in die Lebensgeschichten der beiden Protagonisten eingebettet sind und erzählerisch präzise aufgefächert werden. Einerseits ist es der junge Heisenberg als reale Figur, anderseits der fiktive pensionierte Historiker Hellstedt, beide Wahrheitssucher. An und mit ihnen entwickelt Haller die grossen Themen: Wie stehen Träume und Realität zueinander? Wie verändert der Beobachter das Beobachtete? Wie weit kann man sich dem Unsagbaren sprachlich nähern? Welche Rollen spielen Zufall und Vorherbestimmung im Leben? Existiert wirklich nur, was formuliert werden kann? Es zeigte sich vor allem auch im Gespräch, wie Fragen der Literatur und Fragen der Physik nahe beieinander liegen. Der studierte Biologe Haller interessierte sich schon seit jungen Jahren weit über das Naturwissenschaftliche hinaus für die Ränder, die Grenzen des Erklärbaren. Dabei war ihm schon mit 19 Jahren klar, dass er sich allen diesen Fragen literarisch annehmen wollte. Doch der Weg zum literarischen Durchbruch war lang und beschwerlich, «doch jeder Widerstand hat mich noch mehr motiviert», bekannte er. Private Schicksalsschläge, Erfolglosigkeit, ja Ablehnung prägten den Weg. Disziplin und Beharrlichkeit waren und sind nötig, um schliesslich zu reüssieren. 20 Jahre lang war er auf Verlagssuche, bevor er 1991 mit «Strandgut» seinen ersten Roman bei Luchterhand publizieren konnte. Auf seine Arbeitsweise angesprochen bekannte sich Haller dazu, ein Langsamschreiber zu sein, zudem erstrecke sich beim ihm die Lektoratsarbeit über ein Jahr. Es sei wie in der Architektur, wenn man etwas ändere, verändere sich die ganze Statik, so dass man immer wieder das Ganze überarbeiten müsse. Grössere Anerkennung fand er als fast Sechzigjähriger mit seiner autobiografischen Trilogie, aus deren erstem Band «Die verschluckte Musik» er abschliessend eine berührende Stelle vorlas, eine zärtliche Begegnung mit seiner Mutter im Altersheim. Die Mutter, die in Bukarest aufwuchs, stellt sich nun vor, mit ihrem Sohn an der Donau zu sitzen, während er ihr aus seinem Roman vorliest, der auch in Bukarest spielt, das Haller Ende des letzten Jahrhunderts besuchte, auf den Spuren seiner Mutter.
So wie sich physikalisch das Beobachtete durch den Beobachtenden verändert, so veränderte sich das Gehörte und Gelesene durch die eindrückliche Begegnung mit einem Autor, der zu den Grossen der Schweizer Literatur gehört. Wir freuen uns auf das für Herbst 2024 angekündigte neue Werk.
Hans Beat Achermann, Text und Bild, 15. Dezember 2023
Scharf beobachtete Unschärfen: Mazenauers Bestenliste 2023
25 Buchneuheiten in zwei Stunden: Alle Jahre wieder stellt der Literaturvermittler Beat Mazenauer Ende Jahr seine Bestenliste vor.
Gleich zum Einstieg knüpfte er an die Schweizer Buchpreis-Verleihung an. Der Preis ging bekanntlich an den 80jährigen Christian Haller, der für seine Novelle «Sich lichtende Nebel» (und wohl ein bisschen auch für sein Lebenswerk) ausgezeichnet wurde. Haller überträgt den physikalischen Begriff der Unschärfe in Literatur, und genau an diesem Begriff orientierte sich auch Mazenauer. Eine ganze Reihe der vorgestellten Bücher spielen in Inhalt oder Sprache mit dem, was nicht eindeutig ist, mit doppeltem Boden oder sprachlichen Mehrdeutigkeiten. Ein erstes und eindrückliches Beispiel dafür ist Beispiel ist die Erzählung von Toni Morrison, die den Leser, die Leserin im Ungewissen lässt, welche der beiden Protagonistinnen nun schwarz und welche weiss ist. Auch bei Sarah Elena Müllers «Bild ohne Mädchen» wird man im Ungewissen gelassen, was denn genau im Nachbarhaus passiert ist. Interpretationsspielraum gibt es selbstverständlich und gattungsbedingt auch bei der Lyrik: Wohl die wenigsten der rund 50 Anwesenden dürften etwas von Angelika Rainers «Zweckbau für Ziegen» gehört haben, das Mazenauer ungefragt vom Verlag zugesandt erhalten hat und das ihn ganz offensichtlich begeistert hat. Begeisterung und Leidenschaft: Die beiden Begriffe durchzogen den anregenden Abend, an dem wie immer bei Mazenauer nicht der Mainstream rezipiert wurde, sondern «Randständiges“ ins Zentrum rückte. So gehörten auch Bücher dazu wie Corinna S. Billes «100 kleine Schauergeschichten» oder ein Band mit poetischen Nachrufen auf einsam verstorbene Menschen. Dass der Literaturbegriff ins Wanken und damit auch ins Unscharfe kippen kann, zeigte Beat Mazenauer anhand eines Romans von Hannes Bajohr, der mit dem Sprachprogramm Chat GPT erzeugt wurde. Dieser zeigt aber auch die Grenzen der künstlichen Intelligenz auf, die sich durch Inzucht und Überfütterung wieder selbst auflöst. Genau dort kann die menschliche Kreativität wieder einsetzen und wunderbare Bücher hervorbringen, solche, die vielleicht zu den besten des Jahrgangs gehören. Auch diese Ungewissheit gehört zum Geschäft des Schreibens. Wenigsten für kurz standen die ausgewählten Bücher im Mazenauerschen «Lichtkegel», jenem Phänomen, das Ausgangspunkt ist von Christian Hallers Novelle.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Die Liste mit allen vorgestellten Büchern samt Kürzestkommentar und weiteren Empfehlungen finden Sie hier.
Eine Balkanreise zwischen Vergangenheit und Zukunft
Rund 50 Literaturinteressierte kamen am letzten Oktoberabend in den Schweizerhof, um der seit 16 Jahren im Unterengadin lebende Autorin Angelika Overath zuzuhören. Eingeladen hatten die LiteraturGesellschaft Luzern LGL und das Literaturhaus Zentralschweiz lit.z.
«Unschärfen der Liebe» heisst der im Frühjahr 2023 erschienene Roman der 66-Jährigen, aus dem sie zwei längere Passagen vorlas, konzentriert und eindringlich. Das Buch ist die Fortsetzung des vor fünf Jahren erschienenen «Ein Winter in Istanbul». Noch vor dem Vorlesen wollte diebestens vorbereitete Moderatorin Ruth Gantert von der Autorin wissen, wie diese zum literarischen Schreiben kam. Sie hätte als Literaturkritikerin so viele schlechte Bücher auf dem Tisch gehabt, dass sie spürte: «Das kann ich auch und besser.» Sie hatte als promovierte Germanistin jahrelange Erfahrung als Verfasserin von Reportagen und Kritiken für renommierte Zeitschriften und Zeitungen. «Irgendwann merkte ich: Da will etwas erzählt werden.» Auch in ihrem neuen Roman ist das Reportagenhafte herauszuhören: Der Erzählrahmen ist eine Bahnfahrt von Baran, dem türkischen Kellner, von Chur nach Istanbul. Die vorbeiziehende Landschaft, die Zwischenhalte und Grenzüberfahrten geben Anlass zu Reflexionen über die kriegerische Geschichte, Mitreisende sind Stoff für Geschichten und die 30 Stunden Fahrt bieten genug Zeit, Erinnerungen abzurufen. Denn Barans Geschichte ist eng verknüpft mit derjenigen von Cla, den er in Istanbul besucht, und von Alva, die mit dem gemeinsamen Kind in Chur zurückgeblieben ist. Es ist ein Unterwegssein auf verschiedenen Ebenen, vieles ist unscharf, wie es im Titel heisst, so wie die manchmal schneller, manchmal langsamer vorüberziehende Landschaft. Aber es droht «keine gute Ankunft». Immer wieder spiegelt äusseres Geschehen die Welt- und die Seelenlage. Eindrücklich die Schilderung eines gewaltigen Erdbebens, als Baran in Istanbul ankommt.
Im anschliessenden Gespräch zeigte sich die Autorin als humorvolle Gesprächspartnerin, die genau Auskunft gab über ihr Schreiben: Dieses ist – neben der genauen Recherche – stark von der Sprache her entwickelt: «Man kann alles sagen, wenn die Sprache hält.» Sie erzählte auch, dass noch ein dritter Band folgen wird, «Alvas Antwort». Denn weil die Romanfiguren während des Schreibens ein Eigenleben entwickelten, «wollte ich wissen, wie es weitergeht». Sie gestand auch eine gewisse «Kitschanfälligkeit», die sie sich im Gegensatz zu den Reportagen im Roman leisten könne. Anspielungen und Ausführungen zur Mythologie und zur Philosophie machten die Intellektualität der Autorin spürbar, was sich auch im Gespräch zeigte. Das mehrfach zitierte «Zusammenfallen der Gegensätze», das der Philosoph Nikolaus von Kues (Cusanus) beschrieben hat, ist eine Art Leitmotiv des Romans: Innen und aussen treffen sich, Kulturen prallen aufeinander, Mann und Frau (und Mann und Mann) ziehen sich an, Grossstadt und Graubünden treffen sich.
Wie sich Angelika Overath mit Sprache auseinandersetzt und sie seziert, zeigte sich in den wenigen romanischen Gedichten, die sie zum Schluss samt Übersetzung vorlas: Es war so etwas wie ein poetologisches Konzentrat, «Versuche für den Ernstfall», wie es in einem Gedicht heisst, oder in einem anderen: «Sprache, spiele mit mir!». In «Alvas Antwort» wird das gekonnte Spiel weitergehen.
1. November 2023 – Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Autorin Ursula Fricker im Gespräch mit Moderator Thomas Heimgartner.
Ein Vater als Ernährungsfanatiker
«Wann sind wir denn endlich gesund genug?» fragt Tochter Hanne fast verzweifelt ihren Vater Alwin. Auch sie möchte sich manchmal etwas gönnen, das nicht unter der väterlichen Ideologie des Gesundheitswahns steht. Denn dieser Vater ist ein Orthorektiker, einer, der die Gesundheit zur Ideologie (oder Religion) gemacht hat und damit seine Familie terrorisiert. Ursula Frickers stark autobiografisch geprägter Roman «Gesund genug», aus dem sie im Schweizerhof las, greift ein auch heute aktuelles Thema auf: Fanatismus, Abschottung, Schwarz-Weiss-Denken, Rigidität. «Ein perfider Schachzug des Schicksals», wie die Autorin sagt will es, dass dieser scheinbar gesunde Mann von einem Tag auf den andern an einem tödlichen Darmkrebs erkrankt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Tochter schon viele Jahre ausgezogen, allerdings immer noch mit dem langen Schatten des Vaters unterwegs, auf dem schwierigen Weg zu einer eigenen Identität, in der auch Lust und Genuss ihren Platz haben dürfen.
Die Lesung und das Gespräch zeigten auf, wie vielschichtig das Buch ist: Der Familienroman ist erweitert um gesellschaftspolitische Themen, es geht um ethische Fragen und natürlich: Wie weit ist Gesundheit beeinflussbar und wo wird gesund zu ungesund? Interessant auch die Gedanken, die aufzeigen, wie dieser Vollwertkost-Fanatismus in faschistisches Denken kippen kann. Der Text von Ursula Fricker ist kein Wutbuch, wie sie selber sagt, auch kein Thesenroman, sondern ein differenziertes, «warmes» Buch, durchaus auch mit zärtlichen Passagen und einer wunderbaren Stelle, die sie zum Schluss vorlas: Die Mutter kauft sich eine E-Piano, gönnt sich endlich einen Rest eigenes Leben. Moderator Thomas Heimgartner stellte klug und empathisch weiterführende Fragen und auch die Zuhörenden wollten noch mehr erfahren, zum Beispiel zur Rolle des Bruders und der Mutter, aber auch zum Schreibprozess, zum Aufbau des Buches, das auf verschiedenen Zeitebenen spielt. Während im Buch gezeigt wird, wie beinahe unmöglich ein Dialog mit fanatischen Rechthabern ist, gelang der Dialog mit der in der Nähe von Berlin lebenden Autorin auf sympathische Weise.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Ein Gruppenbild zum Abschluss.
Erfolgreicher Jubiläumsanlass 10 Jahre LGL
Literatur gepaart mit Musik in bester Gesellschaft
Bis auf den hintersten Platz ist der Bringolfsaal im Schweizerhof mit fast 200 Personen besetzt an diesem strahlenden Abend des 23. Juni. Gefeiert wird das zehnjährige Bestehen der LiteraturGesellschaft Luzern LGL. Präsidentin Regula Jeger begrüsst das Publikum und würdigt den mittlerweile 94-jährigen Gründer, Peter Schulz, der «im Geist» seine Gesellschaft mitfeiert. Literatur reisst mit, wühlt auf… und vieles mehr; sie verbindet, wie die literarischen Paare des Abends eindrücklich vor Augen führen. Der oder die Erstgenannte, bei der LGL schon einmal Gast, bekam Carte blanche und brachte eine schreibende Kollegin, einen befreundeten Schriftsteller mit. So unterschiedlich die Paare, so spannend ihre Gespräche, ihr Lesen, ihr Nachdenken über das Wesen der Fiktion. Wie soll man sich in dieser «Versuchsanordnung» auf die vorgegebenen 15 Minuten beschränken? Regula Jeger und Hans Beat Achermann lassen die Duett-Paare mit je wenigen treffenden Worten auf die Bühne treten.
Der Basler Autor Martin R. Dean hat die Luzerner Lyrikerin Katharina Lanfranconi zum Pas de deux eingeladen. Deren lebendig rezitierten Gedichte verweben sich sehr stimmig mit Passagen aus Deans Essay «Verbeugung vor Spiegeln»; tatsächlich spiegeln sich die poetischen Bilder ineinander – wer kann da die Einladung «Komm auf den Balkon» der Dichterin ausschlagen?
Der Einladung des in Zürich lebenden Autors Urs Faes sehr gern gefolgt ist die aus Berlin stammende Schriftstellerin Barbara Honigmann, welche seit langen Jahren in Strassburg lebt. Sie liest den Anfang aus «Chronik meiner Strasse» und verrät dann als Clou, dass es für deren «Urszene» schliesslich keinen Platz mehr gab im Text. Wesentlich geht es auch im Schaffen von Urs Faes um die Frage, wie sich «das Wirkliche» in literarischen Stoff verwandelt. Die gelesene Passage, noch auf pinkem Arbeitspapier ausgedruckt, lässt uns gespannt auf seinen neuen Roman warten.
In der Literatur und vorher schon im Leben gefunden haben sich Dana Grigorcea und Perikles Monioudis, die Rücken an Rücken am Küchentisch schreiben und sich anschliessend gegenseitig mit Texten überraschen. Anhand einer Passage aus «Frederick» (der Protagonist wurde berühmt als Fred Astaire) von Perikles Monioudis stellt sich die Frage, welche Rolle die Kunst im Leben spielt, was sie gibt, was sie nimmt. Darum kreist auch die Liebesnovelle seiner Frau: «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen» mit der Primaballerina Anna. Als ob sie selbst auf der grossen Opernhausbühne stünden, übersprudeln Frau und Mann, Autor und Autorin vor Energie und wünschen der LGL weitere 100 Jahre!
Nach der kleinen Pause folgen die beiden Schriftstellerinnen Tabea Steiner und Melinda Nadj Abonji; diese ist auch Musikerin, logisch, dass sie ihr Duett mit musikalischen Worten angekündet haben. Und nun wollen sie ausprobieren, welchen Klang der nicht selbst geschriebene Text annimmt: Melinda Nadj Abondji liest einen Ausschnitt aus Tabea Steiners neuem Roman «Immer zwei und zwei» und befragt die Autorin zum Titel. Das Abgehackte ebenso wie die Verschiebung der Ordnung interessieren sie, meint Tabea Steiner. Bevor sie aus «Schildkrötensoldat» liest, sagt ihre Kollegin, dass am Anfang dieses Wort war, drei Mal sechs Buchstaben. Auch die Satzzeichen, die Pausen also, sind ihr wichtig, aber auch verhasst. Hier unterbricht das unerbittliche Glöcklein die Lesung, und dem Publikum entgeht bestimmt Spannendes.
Mit Leo Tuor und Noëmi Lerch wird der Abend dreisprachig und noch musikalischer: «Die Wölfin», zunächst romanisch (La luffa), dann in der Sprache Goethes (Leo Tuor nimmt die Erwähnung des an Barbara Honigmann verliehenen Goethe-Preis der Stadt Frankfurt auf), dann «Die Pürin», zunächst italienisch (mit der Übersetzung «La contadina» sei sie richtig angekommen im Bleniotal, meint Noëmi Lerch), dann im deutschen Original. Als Beispiel für die Musikalität der poetischen Sprache erzählt Leo Tuor von jener Lesung mit einem Musiker, welcher seinen Text nicht verstand, dessen Qualitäten aber perfekt in Musik umsetzte: «Sprache ist immer Musik».
Das Aufnehmen des Poetischen in der Musik kommt beim Spiel der drei Musizierenden in unterschiedlichen Kombinationen (Schwyzerörgeli, Saxophon, Cello, Bass) in Eröffnung, Zwischenspielen und Finale wunderbar zum Ausdruck; fein harmonierend, kraftvoll und umarmend geben sie dem Gehörten Echoraum. «Zwischenaktmusik» der besonders inspirierenden Art.
Mit grossem Dank allen voran an die Autorinnen und Autoren, den Musiker und die Musikerinnen, die Crew des Hotels, die Techniker von Auviso und die Geldgebenden Stiftungen sowie Sponsoren schliesst LGL-Vizepräsident Hans Beat Achermann diese ausserordentliche Ausgabe von Literatur in guter Gesellschaft - mit bestem Publikum - und lädt herzlich ein, auf die 10 Jahre LGL anzustossen.
24. Juni 2023 – Felicitas Spuhler (Text), Eveline Beerkircher (Fotos)
Die Bilder vom Jubiläumsanlass
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Friederike Kretzen (links) beim Lesen, Ariane Koch beim Signieren.
Friederike Kretzen und Ariane Koch im Gespräch
Vom Bleiben, Reisen und Schreiben
Es war quasi der Auftakt zum Jubiläumsanlass vom 23. Juni, der unter dem Titel «Literarische Duette» über die Bühne im «Schweizerhof» gehen wird. Die Doppellesung mit Ariane Koch und Friederike Kretzen entstand allerdings in diesem Format auf Wunsch von Ariane Koch. Sie hatte sich gewünscht, im Doppel aufzutreten, zum Beispiel mit einer Freundin – und diese war dann niemand Geringerer als die bekannte Autorin Friederike Kretzen. Zwei verschiedene Generationen also lasen aus ihren neusten Werken, die 35jährige Ariane Koch aus ihrem mehrfach ausgezeichneten Debütroman «Die Aufdrängung», die 66jährige Friederike Kretzen aus ihrem soeben erschienenen Roman «Das Bild vom Bild vom grossen Mond». Es sind zwei anspruchsvolle Texte, und ebenso anspruchsvoll war das erhellende Gespräch darüber. Die beiden Autorinnen gingen wunderbar auf die in ihren Werken expliziten oder auch nur angetönten Themen ein. Die Kindheit spielt in beiden Büchern eine grosse Rolle: Das Kind, das die Fantasie oder die Imagination spielen lässt, ohne zu wissen dass es ein Kind ist. Beim literarischen Schreiben später dann die bewusst eingesetzte Kraft der Imagination, die den Stoff auch aus der Kindheit bezieht. Natürlich wurde dann das Hauptmotiv von Ariane Kochs «Aufdrängung» im Gespräch erläutert und weitergesponnen. Der unbenannte Gast im Roman gab Anlass, nachzudenken über unsere Rolle als Gastgeber allgemein oder zum Beispiel auch Flüchtlingen gegenüber. Wie scheinbar unpolitische Texte auch plötzlich gesellschaftspolitische Relevanz bekommen, zeigte sich im Gespräch immer wieder. Friederike Kretzen verstand es, mit ihrem grossen Bildungshintergrund immer neue Bezüge herzustellen und so neue Zugänge zu den Texten zu verschaffen. Wunderbar, wie sie das Motiv der Puppenstube aufnahm, daraus ein Plädoyer «für die Liebe zum Kleinen» formulierte, das dann auch zu einem Plädoyer für die Literatur und die Kraft der Imagination wurde: Das Schreiben ist immer auch ein Aufbruch in unbekannte Welten, eine Reise «zur imaginären Geografie», ein Erschliessen von neuen Räumen.
Fenster zu neuen Sichtweisen
Wenn man zu Besuch gehe, solle man ein Fenster und eine Lampe mitbringen, zitierte Friederike Kretzen sinngemäss einen persischen Autor. Erhellung und Erweiterung der Sichtweisen: Dahinter steckt auch eine Forderung nach mehr Toleranz. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man sich verunsichern lässt, Rollen in Frage stellt und Doppeldeutigkeiten zulässt. So wurden immer neue Räume gedanklich geöffnet, neue Fragen in den Raum gestellt, zum Beispiel: Ist Reisen nicht immer auch eine Form von Aufdrängung? Für die Zuhörenden und den Schreibenden stellte sich am Schluss des Abends die sich aufdrängende Frage: Wer waren jetzt die Gäste und wer die Gastgeberinnen? Die Autorinnen oder die Zuhörenden? Oder können/müssen/dürfen wir beides sein?
23. Mai 2023 - Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Moderator und Vorlass-Verwalter Rudolf Probst (links) im Gespräch mit «seinem» Autor Hansjörg Schertenleib.
Rudernd und reisend den Vater erfinden
Es war ein doppelter Einblick, den Hansjörg Schertenleib den rund 40 Literaturinteressierten im Schweizerhof bot: Einerseits den Einblick in das fertige Romanprodukt, den Roman «Im Schilf» in Form einer kurzen Lesung, andererseits den Einblick in den literarischen Schaffensprozess, der vor über 40 Jahren begann. Rudolf Probst, der Schertenleibs «Vorlass» im Schweizerischen Literaturarchiv betreut und erschliesst, befragte den 65-Jährigen mit feinem Humor nicht nur zum neusten Werk, sondern auch zu den Anfängen des Schreibens. Der gelernte Schriftsetzer gestand, dass er schon während der Lehre davon träumte, nicht nur fremde Texte mit dem Winkeleisen in die Bleisatzkästen zu setzen, sondern Selbstgeschriebenes. Schreiben sei für ihn immer auch Handwerk gewesen, nicht nur akademische Kopfarbeit, «action writing», spontanes und intuitives Dahinschreiben, das aber beim Schreiben durchaus einen Gestaltungsprozess durchläuft. Der Stoff des neusten, des 27. Buches von Schertenleib ist sehr autobiografisch grundiert. Anlass war der Tod seines Vaters, der ihm kein rechter Vater war, weshalb er sich als «falscher Sohn» fühlte. Die Literatur sei eine Möglichkeit, Wahrheiten neu zu setzen, den Vater neu zu erfinden (und so auch einen Akt der Versöhnung und der Befreiung einzuleiten). Raffiniert setzt Schertenleib dem Vater des Ich-Erzählers einen «Gegenvater» gegenüber: Max, den ehemaligen Schwiegervater, der ihm zum väterlichen Freund wurde. «Im Schilf» ist eine Row und Road Novel, rudernd und reisend werden Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. In der Natur am Sihlsee und in Irland (wo der Autor selber viele Jahre lebte) spiegeln sich die Gefühle, es ist sein «romantisches Erzählprinzip», das zu wunderbaren Naturbeschreibungen führt. Die grosse und anhaltende Liebe zu Irland, zu den Menschen dort und zur Landschaft, war auch im Gespräch immer wieder Thema, brachte manche Anekdote zu Tage. Nicht fehlen durften kleine Seitenhiebe gegen den heutigen Literaturbetrieb, doch diese wurden gleichsam abgemildert durch eine wohltuende Selbstironie. Und dann verriet Schertenleib, der Vielseitige, auch noch etwas über sein nächstes Projekt: Ein Mundartroman soll es werden, nicht nur selbst geschrieben, auch selber gestaltet und mit einem selbst verfassten Klappentext. Der «aus der Zeit Gefallene» kehrt wenigstens teilweise zu den Anfängen zurück und wird uns zweifellos überraschen mit neuen «eskapististischen Möglichkeiten der Literatur».
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Leben und Lieben im Doppelpack
Es war ein Eintauchen in die kultivierte, (gross)bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts. Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» erzählt die Geschichte der Brüder Goncourt, Edmond ist der ältere, Jules der jüngere und kränkere der beiden. Es sind zwei Leben und doch nur eines, das sich die beiden Brüder im selben Haushalt teilen.
Der eine kann nicht ohne den andern, das ist im Schreiben so und im Sterben, mindestens beinahe. Und auch im unverbindlichen Lieben teilt man sich die Geliebten. Ein Doppelleben führt aber auch Rose, die Haushälterin der beiden Junggesellen. Davon aber erfahren die beiden erst nach deren Tod, was umgehend in einen Roman verwandelt wird. Den Herrschaften ist die weibliche Gegenfigur Rose entgegengesetzt, die als «Hörige» und Abhängige die «Untertanenwelt» verkörpert und mit durchaus krimineller Energie die Brüder betrügt. So wird auf verschiedenen Ebenen doppelt gemoppelt, um es etwas salopp zu sagen. Sulzers Stil ist allerdings alles andere als salopp. So erlesen wie die Speisen, welche die Goncourts sich einverleiben, so erlesen ist Sulzers Stil. Und wenn er vorliest, wird die Sinnlichkeit der Sprache zu einem sinnlichen Hörvergnügen. Ein feiner Humor durchzog die vorgelesenen Stellen, unvergessen die Beschreibung der ungeniessbaren Speisen, welche Rose den Brüdern zubereitete – stets im Glauben, eine vorzügliche Köchin zu sein.
Das Buch basiert auf den berühmten 7000 Tagebuchseiten der Goncourts, die den Basler Autor so beeindruckt haben, dass er ihnen zu einer neuen Wahrheit und zu neuem Leben verholfen hat. Denn Schreiben heisst bei Sulzer arrangieren, verdichten, auslassen, ja, und auch ausschmücken, wie er auf Fragen des Moderators Urs Bugmann ausführte. So ist das «Doppelleben» bei aller Tragik ein vergnügliches Sitten- und Unsittengemälde, farbig, keine Biografie, aber ein lustvoller Blick in das Wohn-, Ess-, und Schlafzimmer zweier hochbegabter Brüder im Geiste, die dank Sulzers Roman weiterleben und -lieben.
28. Februar 2023 – Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Franco Supino: In der neapolitanischen Gegenwart auf Vergangenheitssuche.
Franco Supinos Spurensuche in Neapel
Es ist auch die bekannte Geschichte von der Migration, der Auswanderung und dem Ankommen (oder Nichtankommen) im gelobten Land. Doch Franco Supino weitet in seinem Roman «Spurlos in Neapel» die Geschichte aus. Nicht Grenchen oder Solothurn, wohin Supinos Eltern in den sechziger Jahren aus dem neapolitanischen Hinterland ausgewandert sind und wo Supino 1965 geboren wurde, sind Ort der Handlung, sondern Neapel und sein Umfeld sind es. Und wo Neapel ist, ist auch das Thema Camorra nicht weit weg. Die Lesung und das Gespräch mit dem Literaturvermittler Beat Mazenauer ermöglichten einen tiefen und kenntnisreichen Einblick einerseits in die Arbeitsweise und schriftstellerische Motivation von Supino. Anderseits aber auch zu Fragen der Identität und der Herkunft. «Du willst ja gar kein Italiener sein», habe ihm seine Mutter gesagt. Seine Schulkollegen hätten die Cantautori der siebziger Jahre besser gekannt als er selbst. Ausgangspunkt des autofiktionalen Buches ist «die Suche, nach dem, was Vater und ich vermisste». So reist der Ich-Erzähler nach dem Tod des Vaters in Italiens Süden, erforscht dort Mentalitätsunterschiede und fragt sich immer wieder, was gewesen wäre, wenn die Eltern mit ihm und seinen Geschwistern nach Neapel zurückgekehrt wären? Wären seine Moralvorstellungen dieselben geblieben, wie er sie in der Schweiz entwickelt hatte? Oder ist so etwas wie Gerechtigkeit milieuabhängig? Die Frage nach den Wurzeln und nach Zugehörigkeit stellt sich auch bei der Suche nach dem spurlos verschwundenen afrikanischen Migrantenjungen Antonio, dem eine Camorra-Familie Aufnahme gewährte. So wiederholen sich Migrationsgeschichten. Auch Supino war ein paar Monate lang «spurlos verschwunden» in Solothurn. Als Sohn eines Saisonniers musste er unsichtbar bleiben. Die eigene Geschichte, die vor Ort recherchierten und die erfundenen, machen das, was Supino «eine echte Fälschung» nannte, «so wie auch der exportierte Mozzarella di bufala eine echte Fälschung ist». Sein Schreiben bleibe eine Suche nach der eigenen Biografie, auch wenn er dazu andere Protagonisten benütze. «Ich muss den Grund spüren, weshalb ich schreibe – und das ist die Verbindlichkeit mit dem eigenen Leben.»
19. Januar 2023 / Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Ein grossartiger Geschichtenerzähler: Catalin Dorian Florescu.
Florescus fulminantes Feuerwerk
Es war ein fulminanter Abschluss des LGL-Jahresprogramms 2022: Catalin Florian Florescu las aus seinem neusten Roman «Der Feuerturm» und er entzündete buchstäblich ein literarisches Feuerwerk. Und um im Bild zu bleiben: So viel Feu sacré ist an einer Lesung selten zu spüren. Denn es waren nicht nur die vorgetragenen Texte, die von einer unbändigen Erzähllust zeugen, es war auch der im Gespräch mit der Moderatorin Martina Kuoni vor narrativer Freude sprudelnde Autor. «Der Feuerturm» ist eine Familiensaga im Bukarest der letzten hundert Jahre. Drei Jahre Recherchearbeit liegen dem 360seitigen Buch zugrunde, gesammelte Fakten, erweitert durch die schier grenzenlose Fantasie des Autors und ergänzt mit eigenen Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend. Florescu wuchs in Rumänien auf und kam erst als 14-Jähriger in die Schweiz. «Der Feuerturm» beginnt mit einer Legende, deren Kernsatz lautet: «Die Welt war eine Lichtung im Walde.» Mythen und Legenden, Religion und (Aber)glauben werden vermischt mit den historischen Fakten. Dies führt zu einem «magischen Realismus», wie wir ihn auch von der südamerikanischen Literatur kennen. Besonders hervorgehoben hat Florescu seine Liebe zu den Heiligen, und deren gibt es viele im Buch. Kleine Geschichten und die grosse Geschichte, das Private und das Politische sind untrennbar verbunden und überlappen sich. Tote und Lebendige treffen aufeinander und umzingeln den «Feuerturm», dieses einst höchste Gebäude von Bukarest. Dieser Turm war es denn auch, der die Initialzündung zum Buch gab, denn eigentlich hatte Florescu eine andere Geschichte im Kopf, als er vor sechs Jahren nach Bukarest reiste. Doch er verliebte sich in dieses Bauwerk, und so wurden der Turm und dann die ganze Stadt zu Protagonistinnen dieser grossen Erzählung, in der das Melancholische und das Komödiantische sich abwechseln. Geschichte wiederholt sich, doch trotz der immer wiederkehrenden Gewalt bleibt die Hoffnung auf Glück, eine Kontinuität des Menschlichen. «Der Feuerturm» ist auch ein Buch gegen das Vergessen wie das Schreiben Florescus eine Form des lustvollen Widerstands ist. «Kreativität ist nichts anderes als sich verlieben», sagte der Autor im Gespräch. Wollen wir hoffen, dass er sich weiterhin verliebt!
13. Dezember 2022 / Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Das (vielleicht) Beste vom Literaturjahrgang 2022
Es gibt die Bestsellerlisten, die auf Verkaufszahlen beruhen, dann gibt es die Bestenlisten, die von Berufskritiker:innen erstellt werden und dann gibt es Beat Mazenauers «Vermutlich beste Buchneuheiten», jeden November exklusiv und wortreich erläutert für die LiteraturGesellschaft LGL. 25 Bücher in zwei Stunden, vom Preisgekrönten und -verwöhnten Kim de L’Horizon bis zur fast vorgesessenen Lyrikerin Erika Burkart, von Mundartgedichten für Kinder bis zu Zukunftsvisionen mit Künstlicher Intelligenz – die Breite der Auswahl war gross, sie widerspiegelt die vielfältigen Interessen und die unermüdliche Entdeckungslust des umtriebigen Literaturvermittlers. Beeindruckend, wie Beat Mazenauer gestenreich und manuskriptfrei Inhalte und Besonderheiten zusammenfassen und auf den Punkt bringen kann, wie er Verknüpfungen und Bezüge über die Werke hinaus herstellt, wie er an ausgewählten Textbeispielen literarische Amuses bouches serviert. Die Nobelpreisträgerin und der Buchpreisträger bildeten bei der Auswahl 2022 die Ausnahme, indem sie auch auf fast allen Bestsellerlisten erscheinen, der Rest war weitgehend ausgesuchte Feinkost, Texte aus der «Spezialitätenküche», erlesen und auserlesen von einem Belesenen und unaufhörlich leidenschaftlich Lesenden. Haben Sie schon von einem Buch gehört, das «Der gefrorenene Zulu im Diemtigtal» heisst oder «Der Teufel hat keine Zeit», von «Republik der Taubheit» oder «Mama ist verrückt und Papa ist betrunken»? Auch diese Titel gehören nach Beat Mazenauers Wertung zu den wahrscheinlich oder vermutlich Besten des Jahres 2022. Erwartete Autorinnen oder Autoren wie Hürlimann oder Sulzer fehlen, aber Unerwartete oder Unbekannte wecken neue Leselust. «Eine Wahrheit gibt es nicht, aber es gibt die Wahrscheinlichkeit, die immer auch andere Wahrheiten ermöglicht», sagte Mazenauer einmal bei einer Buchbesprechung. Wie wahr – auch für seine Auswahl.
Die ganze Liste mit kurzen Erläuterungen finden Sie hier
Hans Beat Achermann (Text)
Frédéric Pajak und seine Übersetzerin Ruth Gantert bereiten sich auf die Lesung vor.
Frédéric Pajak: Das Ungewisse manifestiert sich zweisprachig
Ein Buch ohne Ende, un livre sans fin zu schreiben und zu zeichnen: Das war Frédéric Pajaks Intention. Neun Bände sind es jetzt, die der nun 67jährige französisch-schweizerische Künstler und Herausgeber unter dem Titel «Manifeste incertain» publiziert hat, sechs sind bis anhin von Ruth Gantert ins Deutsche übersetzt worden. Bei diesen neun soll es bleiben. Ruth Gantert war es auch, die Pajak an diesem aussergewöhnlichen Abend im Schweizerhof kenntnisreich auf Französisch befragte. Aussergewöhnlich, weil es nicht nur eine Lesung war, sondern auch eine visuelle Präsentation, bei der via Beamer ausgewählte Zeichnungen projiziert wurden. Denn die Zeichnungen und Texte in Pajaks Bücher gehören unabdingbar zusammen. Diese ganz eigene Gattung Literatur, in der Pajak künstlerischen Aussenseitern mit Worten und Tuschezeichnungen nachspürt, ist weder Comic noch illustrierte Biografie. Am Beispiel von Vincent van Gogh, der in Band 5 des «Ungewissen Manifests» Thema ist, erläuterte Pajak seine Arbeitsweise. «Voraus geht eine monatelange Recherchearbeit, während der ich Biografien, Originaltexte, Korrespondenzen usw. lese.» Oft zeichnet er dann sur place, und wenn er unterwegs ist – und das ist er oft – macht er unendlich viele Notizen in seine Carnets. Die meisten Zeichnungen fertigt er in einer fast manischen Arbeitsweise innerhalb von zwei, drei Monaten an. Langsam fügt sich dann alles zusammen, wie beim Film ist es eine Montagearbeit, die zum fertigen Buch führt.
Neben van Gogh beschäftigte er sich mit Walter Benjamin, Fernando Pessoa, Ezra Pound und weiteren Randfiguren, wie er sie selber nennt. Es sind die Widersprüche in diesen Menschen, die ihn faszinieren, Existenzen, die scheitern, die verkannt und die offensichtlich mit Pajak irgendwie seelenverwandt sind. Mit den beiden «Sprachen» Text und Bild gelingt es ihm, Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen und dem Betrachter und der Leserin Raum zu lassen für eigene Reflexionen. Schon der Titel des rund 2300 Seiten und 1500 Bilder umfassenden «Ungewissen Manifests» markiert einen Widerspruch, der bei Pajak, wie er deutlich machte, durchaus auch politisch zu verstehen ist. Ideologien hasst er, das Suchende, das seinen «Antihelden» eigen ist, zieht sich auch durch Pajaks eigenes Leben, das zeigte sich bei einem kurzen Einblick in Band 6, der die eigene Biografie zum Thema hat und in dem auch der frühe Unfalltod seines Vaters dargestellt wird. Es kann nicht erstaunen, dass über den wunderbaren schwarzweissen Federzeichnungen, besonders auch den Landschaften, immer eine leichte Melancholie liegt. Im Buch über van Gogh heisst es einmal, Vincents Pfad, auf dem er sich bewege, sei schmal. Auch das lässt sich auf Pajak übertragen, doch auf diesem schmalen Gratpfad bewegt sich der Künstler mit einer Souveränität, die seinesgleichen sucht. Man hätte dem Abend gewünscht, dass er kein Ende hätte, doch Frédéric Pajak musste ganz banal auf den Zug. Kein Zweifel, dass er, der Besessene und Unermüdliche, noch während der Fahrt sein Carnet weiter füllte, sans fin.
26. Oktober 2022 / Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Esther Kinskys literarisches Seismogramm
Erdbeben haben öfter Eingang gefunden in die Literatur, von Kleist über Reinhold Schneider bis zu Haruki Murakami. Auch «Rombo», das neuste Werk der deutschen Autorin Esther Kinsky, hat ein Erdbeben als Ausgangspunkt. Bei ihrer Lesung im «Schweizerhof», welche die LGL zusammen mit dem Literaturhaus Zentralschweiz organisiert hatte, wurde schnell klar, dass der Roman weit mehr ist als eine Beschreibung der Zerstörungen, welche das verheerende Beben 1976 im Friaul verursacht hatte. Rombo ist das italienische Wort, welches das unheimliche Grollen bezeichnet, das vor dem Beben spürbar ist. Jede der sieben Figuren, Bewohnerinnen und Bewohner eines nicht namentlich genannten Dorfes, erzählt aus ihrer Erinnerung den Tag des Bebens, beschreibt die Zeichen und Ahnungen, die zum Teil auch verwurzelt sind in alten Mythen. Dieser eine Teil, die Erzählpassagen aus der Perspektive der Betroffenen, sind komponiert aus Gehörtem, oral history literarisch verdichtet. Ergänzend zugefügt sind Beobachtungen einer Ich-Erzählerin aus heutiger Perspektive sowie naturwissenschaftliche Erklärungen, Mythen und Legenden, Reflexionen über das Erinnern und über das Vergessen. Sie habe «das poetische Potenzial» der naturwissenschaftlichen Literatur benutzt, sagte die Autorin im Gespräch mit Esther Schneider. Immer klarer wurde dank der klugen Fragen der Moderatorin die Vielschichtigkeit von «Rombo». Kinsky, die selbst einen grossen Teil des Jahres im Friaul lebt und schreibt, entpuppte sich als eine in vielen Wissenschaften bewanderte Erzählerin, die höchst präzise formuliert, Gehörtes, Gesehenes und Gelesenes in eine eigenständige Romanform bringt. Ein Abend, der die rund 30 Interessierten restlos begeisterte und viele angeregt haben dürfte, sich selbst Gedanken über das Wahrnehmen, über das Erinnern und über das Sehen, das «Weiter sehen» zu machen. So wird Esther Kinskys nächstes Buch heissen, wie sie verraten hat. Es wird vom Kino handeln.
Hans Beat Achermann (Text), Daniela Krienbühl (Bild)
Moderator Hans Beat Achermann und Autorin Sarah Kuratle nach der Lesung.
Hänsel und Gretel in neuer, zauberhafter Form
Die 1989 in Bad Ischl geborene, dies- und jenseits der österreichischen Grenze aufgewachsene Autorin Sarah Kuratle las aus ihrem Romandebüt «Greta und Jannis», 2021 im Otto Müller Verlag erschienen.
Hans Beat Achermann, Vizepräsident der LiteraturGesellschaft Luzern, begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass man fast nicht mehr aufhören könne, über dieses Buch und seine Geheimnisse und Anspielungen zu sprechen, wenn man einmal angefangen habe. Obwohl, wie er sagte, vor allem die Sprache, die Bilder, die Musikalität, die Konstruktion, die Farbigkeit den Text auszeichnen, wagte er eine Inhaltsangabe:
Zwei Nachbarskinder, ein Knabe und ein Mädchen, wachsen in enger Geschwisterliebe zueinander auf. Dann erfährt das zur jungen Frau gewordene Mädchen, dass der zwei Jahre jüngere Mann ihr Halbbruder ist, sie haben denselben Vater; die Gefühle der beiden sind plötzlich nicht mehr erlaubt, doch Gefühle kann man nicht einfach wegscheuchen. Es bleiben Sehnsucht, Heimlichkeiten, Fluchten – ein Märchen ohne Happy End.
Sehr behutsam und kompetent führte der Moderator durchs Gespräch, fragte einleitend nach der Beziehung der Autorin zu den Märchen. Während ihres Studiums war Sarah Kuratle auf das Motiv der Geschwisterliebe gestossen. Im Schreibprozess seien die Figuren zuerst dagewesen; ausserdem ging es ihr auch wesentlich darum, die starken Gegensätze wie Gut und Böse, welche viele Märchen bestimmen, aufzulösen, diese Dichotomien aufzubrechen. Die Autorin liess das Publikum mit einer sehr gekonnten Lesung aus dem ersten Kapitel «Reise ins Gebirge» in diese lokal nicht festzumachende Welt eintauchen. Auch zeitlich bleibt vieles schwebend, «Vor acht oder in hundert Jahren», sagt der Untertitel, den sie eigentlich gern als alleinigen Titel gesetzt hätte.
Auf die Frage, wie sie die Fäden zusammenhalte, die zahlreichen Motive durchziehe, verriet Frau Kuratle, dass sie sich am Anfang eines Schreibtags schon geschriebene Passagen vorlese, um Ton und Bildwelt wiederzufinden. Am Beispiel des mit feuerroten Federn, aufgenähten Bienen, Luchsohrpinseln und Schneckenhäusern verzierten Huts machte sie deutlich, wie wichtig die Natur, Tiere und Pflanzen, ihr sind, nicht nur als Kulisse. Ihr botanisches und zoologisches Wissen holt sie sich aus Büchern, wichtigen Begleitern ihres Schreibens. Eines Schreibens, das vom Lyrischen durchdrungen ist; nicht von ungefähr, hatte sie doch mit dem Schreiben von Gedichten, die in Literaturzeitschriften wie den «manuskripten» veröffentlich wurden, angefangen.
Diese Lyrik führten zwei weitere Passagen, beides Rückblenden, vor Ohren. Nach ihrer Nähe zu Greta gefragt, meinte Sarah Kuratle, sie fühle sich allen Personen gleichermassen verbunden, und zitierte Michael Köhlmeier, welcher feststellte, dass die Figuren einem vorausgehen. Und die Autorin fügte bei, das Schöne an der Literatur sei, dass sie Empathie möglich mache, fürs Anderssein sensibilisiere.
Wie findet man als junge Autorin einen Verlag? Als Antwort auf diese Frage sprach sie vom Glück des Zufalls: Der Verleger war Juror bei einem Wettbewerb, an dem sie mit den ersten beiden Kapiteln des Romans teilnahm. Auch die zentrale Beziehung zur Lektorin ist für sie ein Glücksfall; diese lässt ihr genügend Zeit, ist behutsam, will nichts vereinfachen.
Wie freuen wir uns auf den Roman, an dem Frau Kuratle aktuell arbeitet!
Zwei wunderbar stimmige Geschenke, ein Luzerner Lebkuchen und der «manuskripte»-Band von 1985, rundeten den märchenhaften Abend ab.
PS
Einem Aufruf des internationalen literaturfestivals berlin ilb folgend, las Frau Kuratle am Anfang des Abends eine sehr erhellende Passage aus Salman Rushdies Roman «Mitternachtskinder».
Text: Felicitas Spuhler, Bild: Marco von Ah
30. September 2022
Yael Inokai beim Signieren nach der Lesung.
Ein simpler Eingriff und ein komplexes Thema
Sie kam von Berlin, wo sie wohnt, und flog tags darauf nach New York, wo sie einen einmonatigen Stipendienaufenthalt verbringen kann. Yael Inokai, gebürtige Baslerin, las zwischen den beiden Metropolen in Luzern aus ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman «Ein simpler Eingriff». Zeit und Ort: Im Gegensatz zum wirklichen Leben von Yael Inokai spielen beide Begriffe in ihrem Roman kaum eine Rolle. Das Wo und das Wann sind ausgeklammert, darauf wies Moderatorin Mariann Bühler gleich zum Einstieg hin: Vielmehr sind es neben den Protagonistinnen Räume, die das Geschehen mitprägen: Der Operationssaal, das Patientenzimmer, das Zimmer der Krankenschwestern. Alles Orte, in denen Machtstrukturen sichtbar gemacht werden. Drei Ausschnitte las Yael Inokai. In allen spielte Zuneigung eine Rolle, aber auch deren Fragilität. Meret, die Hauptfigur, ist eine überwache Pflegefachfrau: «Sie muss alles sehen, damit sie in dieser Welt navigieren kann», sagte Inokai im Gespräch. Diese Welt, in der Begriffe wie Normalität und Normierung von Meret zunehmend hinterfragt werden. Die Wachheit spiegelt sich auch in der Sprache, in der alles Überflüssige eliminiert ist und die gerade deswegen eine grosse sinnliche Qualität hat. Überhaupt die Sinnlichkeit: Sie prickelte nicht nur in der fein beschriebenen Annäherung zwischen Meret und Sarah, sie ist für Yael Inokai auch buchstäblich im Stofflich-Materiellen wichtig. Sie liebe Stoffe und Mode, bekannte sie. Auch der Schreibakt selbst sei ein sinnlicher Prozess, sagte die Autorin im Gespräch mit Mariann Bühler, die mit Yael Inokai freundschaftlich verbunden ist, was der Moderation und dem Gespräch neben der fachlichen Kompetenz auch eine sehr herzliche Ingredienz beifügte. Es waren viele bedenkenswerte Sätze, die an diesem Abend im Schweizerhof zitiert und gesprochen wurden. Zwei habe ich notiert: «Auch beim Schreiben als Autorin weiss man manchmal erst im Nachhinein, worum es eigentlich geht.» Und: «Man hat nie genug von der Welt gesehen.» Da wird New York wohl noch nicht die letzte Destination gewesen sein.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
30. August 2022
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