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Mit Fabio Andina im Bleniotal: Pozza und Pizza
Am 15. Februar 2022 hatte er auf Einladung der LiteraturGesellschaft in Luzern gelesen: Fabio Andina, der Tessiner, der mit seinem Roman «Tage mit Felice» einen Bestseller verfasst hat. Auch wenn im Buch steht, dass die Geschichte rein fiktional sei, stimmt das natürlich nur zur Hälfte. Sechs Literaturbegeisterte machten sich auf den Weg ins Bleniotal, wanderten steil hinauf zur Pozza, zur Gumpe, zum kleinen Teich am Fusse eines kleinen Wasserfalls auf 1230 Metern Höhe hoch über Leontica. Die Pozza ist also keine Fiktion, ebenso wenig wie Felice, der Eigenbrötler, der richtig Anselmo hiess und der fast täglich dort oben sein Bad nahm bis zu seinem Tod mit über 90 Jahren.
Doch zuvor ging es von Acquarossa mit dem kleinen Bus der Autolinee Bleniesi über geschätzte ein Dutzend Nadelkurven hinauf nach Leontica – unterwegs musste von der Chauffeuse noch ein auf der schmalen Strasse schlafender Hund wegbugsiert werden. Im Ristorante Larice wartete bereits Fabio Andina, nach Kaffee und Cornetti ging’s an Fabios Haus vorbei, das mal eine Käserei war, dann an der Casa, in der Felice bzw. Anselmo wohnte und das nun einem Zürcher Anwalt gehört. Weiter über eine asphaltierte Strasse sanft hinauf, immer markiert durch die schön gestalteten Tafeln mit dreisprachigen Textausschnitten aus Andinas Buch und den Routenangaben zur Pozza. Die Hitze trieb rasch den Schweiss aus den Poren ins T-Shirt. Im Mischwald wurden die insgesamt 400 Meter Höhenunterschied grösstenteils mit Steinstufen überwunden. In einer Lichtung klingelte Fabios Handy: Grazie, grazie, grazie, grazie war seine Antwort auf die eben erhaltene Mitteilung eines Jurymitglieds des welschen Radio und Fernsehens RTS: Sein auf Französisch übersetztes Buch «Jours à Leontica» hatte eben den Prix public zugesprochen erhalten, dotiert mit 10 000 Franken. Als Erste durften wir davon erfahren, klatschten und riefen Auguri, auguri.
Dann gings noch ein Stück dem steilen Hang entlang, schön im Schatten, schon rauschte der Wildbach, und dann standen wir ein paar Meter oberhalb der Pozza, einem hüfttiefen Tümpel, mit Steinen gestaut und kaltem Bergwasser gefüllt. Nur Silvan liess es sich nicht entgehen, diesen Jacuzzi zu benützen, die andern genossen die Ruhe und den weiten Blick ins Bleniotal Richtung Lukmanier.
Nach einem 40minütigen Abstieg wartete im «Larice» nach der Pozza die Pizza aus dem Holzofen, dazu viel Wasser. Ein Besuch der über tausendjährigen Kirche San Carlo beim Weiler Negrentino rundete die literarische Wanderung ab, ergänzt durch kultur- und kunstgeschichtliche Informationen, vermittelt durch Aurelio Dell’Oro, einem alteingesessen Talbewohner aus Prugiasco, der in tessinerisch gefärbtem Berndeutsch viel Wissenswertes erzählte.
Ein gelungener Tag mit Fabio auf den Spuren von Felice, bestens organisiert von Felicitas Spuhler. Grazie a tutti!
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Ulrich Weber (links) und Walter Sigi Arnold machten den unbekannten Dürrenmatt bekannt.
Wie Dürrenmatt wieder lebendig wurde
Die Hauptperson war nicht leibhaftig vor Ort, doch im Laufe des Abends wurde sie so fassbar und präsent wie selten: Friedrich Dürrenmatt. Zu verdanken war dies Ulrich Weber, dem wohl besten Kenner des grossen Schweizer Autors, und dem Schauspieler Walter Sigi Arnold, der die «Stoffe»-Texte rezitierend vitalisierte. Der als Soiree angekündigte Abend liess buchstäblich keine Fragen offen – die rund 80 konzentriert Zuhörenden waren sichtlich fraglos begeistert vom Dreigestirn Ulrich Weber, Sigi Arnold und natürlich Friedrich Dürrenmatt. Weber und Arnold hatten es verstanden, mit ausgewählten und zum Teil unpublizierten Texten Dürrenmatts Kosmos, den er in den letzten zwanzig Lebensjahren in den «Stoffen» noch einmal autobiografisch und philosophisch erweiterte, verständlich zu machen. Ulrich Weber, Biograf und Nachlassverwalter Dürrenmatts, setzte erzählend und mit Anekdoten versehen die Lebensleitplanken, die vorgelesenen Textstellen illustrierten und erweiterten das rein Biografische. Dürrenmatts Texte wirkten beim Zuhören erstaunlich aktuell, sinnlich, abgründig, humorvoll, grotesk, aber auch zärtlich. Ergreifend ganz am Anfang der Liebesbrief von Dürrenmatt an seine Frau Lotti, in welchem er bereits sein poetologisches Konzept formulierte: Während er mit der Welt spiele, müsse sie, die zunehmend Depressive, die Welt aushalten. Viel Lust zum (wieder) Dürrenmatt Lesen boten auch die Skizze «Der Schachspieler» und die literarische Vorarbeit zum Roman «Justiz». Im Zentrum des Abends standen immer Dürrenmatts Fragen: Woher kommen meine Ideen? Woran erinnere ich mich? Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin? Fragen, auf die Dürrenmatt literarische Denkmäler als Antworten gesetzt hat. Die Soiree wurde selbst zu einem kleinen Denkmal in der Geschichte der Literaturgesellschaft LGL.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
LGL-Präsidentin Regula Jeger (links) dankt Melitta Breznik mit einem Frühlingsstrauss für die eindrückliche Lesung.
Melitta Breznik: Berührende Chronik eines Abschieds
Pflegerin, Ärztin, Tochter: Die Reihenfolge kann wechseln, die Rollen sind überschneidend. Doch die Zuspitzung aufs Ende, auf den Tod hin bleibt beklemmend konstant. Das Buch von Melitta Breznik mit dem schlichten Titel «Mutter» ist eine «chronologische Chronik», in welcher die Ich-Erzählerin Abschied nimmt von ihrer fast 91jährigen Mutter. Neben den drei erwähnten Rollen kommt jetzt noch diejenige der Erzählerin dazu, und bei der Lesung bei der LGL im Schweizerhof diejenige der brillanten und präzisen Gesprächspartnerin. Hans-Rudolf Schärer, der durch den Abend führte, verstand es, anhand von ausgewählten Textstellen das Vorgelesene zu vertiefen und einkreisend die relevanten Fragen zu stellen, zum Beispiel zum Verhältnis von Autorin zur Ich-Erzählerin, aber auch zur Rolle der Naturbeschreibungen oder zur Rhythmisierung der Chronik. Fünf Textstellen hatte die im Engadin lebende Ärztin und Autorin ausgewählt, immer wieder kam die Ambivalenz in der Mutter-Tochter-Beziehung zum Vorschein, aber auch der Blickwechsel von der fürsorglichen Tochter zur analysierenden Ärztin. Gerade durch die Mimik des Lesens wurde die eher nüchtern-lakonische und doch kunstvolle Sprache von Melitta Breznik um mehrere Dimensionen erweitert: Humor blitzte auf, aber auch Betroffenheit und Trauer. Das, was – wie die Autorin im Gespräch ausführte – zwischen den Zeilen liegt, kam durchs Vorlesen unausgesprochen an die Oberfläche und erweiterte so die reine Textebene. Die rund 50 Zuhörenden im «Schweizerhof»-Salon 2 nahmen spürbar Anteil bis zum unausweichlichen Ende: «Mutter ist fortgereist für immer.» Ein kleiner Epilog relativiert die Endgültigkeit. Die Erzählerin erhebt neben der eben verstorbenen Mutter das volle Weinglas: «Auf Dein Leben, Mama.» Besinnlich, doch heiter unterlegt endete ein wunderbarer Abend.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Der Horváth-Lesezirkel im Hotel Beau Séjour. Mittendrin Schauspieler Wolfram Berger (Vierter von rechts), der bei der Uraufführung 1969 von «Zur schönen Aussicht» mitgespielt hatte.
Rückblick auf die schöne Aussicht
Was für ein Stück, dieses «Zur schönen Aussicht» von Ödön von Horváth. Obwohl bereits 1926 geschrieben, wurde es erst 1969 erstmals aufgeführt, und jetzt wurde die Komödie, die eigentlich eine Tragödie ist, am Luzerner Theater gespielt. Die LiteraturGesellschaft hatte dazu einen Lesezirkel ausgeschrieben:Drei Frauen und drei Männer hatten sich daraufhin gemeldet zum Lesen, zum Diskutieren und zum gemeinsamen Besuch des Stücks. Sie vertieften sich in Horváths Bildungsjargon, sprachen über seine Frauenfiguren und seine Haltung dem sich anbahnenden Nazitum gegenüber und über vieles andere. Am zweiten Abend im Hotel Beau Séjour bereicherte Dominik Busch, der die Produktion am LT dramaturgisch begleitete, die Gesprächsrunde mit vertieften Einblicken in die konkrete Theater(vor)arbeit, gab Auskunft über die Zusammenarbeit mit Regie und Schauspieler*innen. Für den dritten Abend hatte Moderator Hans Beat Achermann den gebürtigen Grazer Schauspieler Wolfram «Wolfi» Berger eingeladen, der bei der Uraufführung des Stücks 1969 in Graz den Karl gespielt hatte und später die Komödie selber auch inszenierte. Erinnerungen und Anekdoten aus dem langen Theaterleben Bergers vitalisierten die Auseinandersetzung mit Horváth, darüber hinaus war es eine Begegnung mit einem Stück Theatergeschichte und mit einem Menschen, dessen Leidenschaft für Sprache und Bühne in jedem Satz spürbar wurde. Eine kurze Lesung des Anfangs von Horváths «Der ewige Spiesser» und von einem Gedicht Gerhard Meiers krönten den Abend. Den Abschluss des Lesezirkels bildete der Besuch der Aufführung in der Box und die anschliessende Gesprächsrunde mit den Schauspielerinnen und Schauspielern, die nochmals neue Aspekte hervorbrachte.
Gerne werden wir diese Form der Zusammenarbeit mit dem Luzerner Theater auch in Zukunft weiter pflegen. Die Lesezirkel erweitern die Sicht durch Begegnungen und Zusatzinformationen und vor allem auch durch lebendigen Austausch über die individuelle Lektüre hinaus. Bald schon gibt es die Möglichkeit, sich in Heinrich von Kleists «Amphytrion» zu vertiefen (Ausschreibung im nächsten Newsletter).
Nicht nur ein präziser Schreiber und Beobachter, sondern auch ein aufmerksamer Zuhörer: Fabio Andina bei der Lesung in Luzern.
Fabio Andina: Stille und Wasser im Bleniotal
Der 50jährige Tessiner Fabio Andina hat mit seinem schmalen Buch «Tage mit Felice» 2019 einen kleinen Bestseller gelandet, nicht nur im Tessin, sondern vor allem auch im deutschsprachigen Raum. Und das ist nicht erstaunlich, wenn man Fabio Andina lesen und erzählen hört. Fast 80 Literaturinteressierte der LiteraturGesellschaft Luzern und der Società Dante Alighieri lauschten dem Schriftsteller und Filmwissenschaftler, der selber im Bleniotal in Nachbarschaft zu dem «Titelhelden» aufgewachsen ist und mittlerweile (nach einem Studium in San Francisco) auch wieder in Leontica wohnt. Wobei: Felice ist eher ein Antiheld, ein Eremit, aus der Moderne gefallen, der ein bescheidenes und karges Leben führt, ähnlich einem Zen-Mönch. Er ist schweigsam, auch die Begegnungen mit dem namenlosen Erzähler sind oft sprachlos, der Erzähler beobachtet, beschreibt diesen 90jährigen, der fast täglich eine Stunde hinaufsteigt zur Pozza, einer natürlichen Wasserwanne, einer Gumpe, wie es in der Übersetzung heisst. Dort steigt er ins kalte Bergwasser, nicht um sich zu waschen, sondern um in den Kreislauf der Natur einzutauchen. In diese Welt des Felice, die immer mehr auch die Welt des Erzählers und – wie er im Gespräch durchblicken liess – auch die von Fabio Andina geworden ist, konnten auch die Zuhörenden fast anderthalb Stunden eintauchen. Andina las auf Italienisch, Christian Baumbach, Schauspieler am Luzerner Theater, las die Textstellen auf Deutsch, Felicitas Spuhler von der LGL moderierte gekonnt zweisprachig. Ein Abend, der einen für kurze Zeit in eine andere, elementare Welt zurückführte, nicht romantisierend, aber zu einer Haltung, in der der Lärm ausgeschlossen ist und das Wasser still in der Gumpe ruht. Zwar pilgern inzwischen aufgrund des Buches monatlich gegen 100 Leute zur Pozza hinauf, ein kleiner Literaturtourismus, allerdings noch in Grenzen dank des mühsamen Aufstiegs. Auch die Literaturgesellschaft wird im kommenden Mai hinaufsteigen zum stillen Wasser im abgelegenen Tessiner Tal.
Hier finden Sie weitere Informationen zu dieser Exkursion.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Ursula Hasler Roumois liest aus «Die schiere Wahrheit».
Ein Krimiabend mit Fragen zum Krimi
«Wie haben Sie’s mit dem Krimi?» fragte Moderator Beat Mazenauer zu Beginn des Abends das Publikum und auch die Hauptperson des Abends, Schriftstellerin Ursula Hasler Roumois. Wie sie es mit dem Krimi hat, hat sie in den folgenden anderthalb Stunden lesend und erzählend beantwortet. Dass Krimi nicht gleich Krimi ist, da waren sich alle einig, auch die beiden Protagonisten von Ursula Haslers Roumois’ Roman «Die schiere Wahrheit». Grob gesagt gibt es den Krimi, bei dem alles und oft verschlungen nur auf die Auflösung hinausläuft, und dann gibt es die mehr psychologisch angesetzten Kriminalromane, bei denen es um Motive, um Entwicklungen und komplizierte Beziehungen geht. In Ursula Haslers Roman treffen sich Friedrich Glauser und Georges Simenon in einem Badeort an der französischen Atlantikküste und schreiben gemeinsam einen Kriminaloman, diskutieren aber auch, was einen guten Kriminalroman ausmacht, einen, den man vielleicht mehr als einmal liest, obwohl man den Mörder oder die Täterin bereits kennt. Es sind die grossen Fragen nach der Wahrheit und dem Verhältnis von Recht zu Gerechtigkeit, die den ästhetischen und literarischen Mehrwert eines bedeutenden Krimis ausmachen und natürlich die Sprache. So betrachtet ist Ursula Haslers Roman auch weit mehr als ein Krimi, nämlich eine Art Meta-Krimi, der gekonnt mit dem Genre spielt, seine Grenzen befragt, auslotet und neu vermisst. Das zeigt sich gerade ganz am Schluss, als Glauser dem berühmten Kollegen auf dem Bahnsteig vorschlägt, den eben fertig gestellten Kriminalroman nochmals «mit einem anderen Ende mit einer anderen Wahrheit» zu überarbeiten. Denn die Wahrheit ist «schier», ist nie absolut.
Es war ein äusserst bereichernder Abend, der auch passionierten Krimileserinnen und -lesern neue Zugänge zu dieser populären literarischen Gattung eröffnete und bekannt machte mit einer sehr klugen Autorin, herausgefordert von einem äusserst kenntnisreichen Moderator.
Hans Beat Achermann, 21. 1. 2022
Die deutsch-jüdische Autorin Barbara Honigmann liest im Schweizerhof aus ihrem Vater-Roman «Georg».
Literarische Suche nach jüdischer Identität
Vom Osten Berlins, wo sie 1949 geboren wurde, in den Osten Frankreichs, nach Strassburg, wo sie seit 1984 lebt - das sind die geografischen Pole von Barbara Honigmanns Biografie. Die inneren Pole sind die Geschichte der Judenverfolgung, von Flucht und Krieg, und die andauernde literarische Erkundung, ob und wie das Deutsche und das Jüdische wieder zusammenfinden. In diesem Spannungsfeld spielen ihre Romane, Essays und Erzählungen, meist angesiedelt in der eigenen Familiengeschichte. Letztes Beispiel für diese Recherche ist das Porträt ihres Vaters Georg, der dem Buch auch den Titel gab. Dieser Vater, ein hochbegabter Bohémien, so zeigte sich bei der Lesung und im leidenschaftlich geführten Gespräch mit der Zürcher Historikerin Karen Roth-Krauthammer, war Antrieb und Ausgangspunkt für Barbara Honigmanns unentwegte Suche nach der Frage, wie sie ihr eigenes Leben als Jüdin in einer westlich aufgeklärten Welt leben soll. Die Lesung zeugte eindrücklich von dieser Suche und gab Einblick nicht nur ins jüdische Leben und Leiden im letzten Jahrhundert, sondern auch in eine heutige Schrifstellerinnenexistenz, die existenziellen Fragen mit einem tiefen Humanismus und feinem Humor nachspürt. Auch im neusten Buch «Unverschämt jüdisch», eine Sammlung all ihrer Preisreden, aus dem sie die Rede zur Verleihung des Jakob-Wassermann-Preises vorlas, umspannte und verknüpfte Barbara Honigmann noch einmal kulturelle, religiöse und politische Widersprüche und Gemeinsamkeiten.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Eine Buchauswahl mit beschränkter Haftung
Engagiert, kompetent, aktuell: Auch dieses Jahr stellte der Literaturvermittler Beat Mazenauer seine persönliche Bestenliste des Jahres 2021 vor.
Fast zwei Stunden lang stellte Beat Mazenauer "Vermutlich beste Buchneuheiten 2021" vor. Es war wie immer ein anregendes Feuerwerk, 27 Mal fasste er kurz Inhalte zusammen, begründete seine Begeisterung für das ausgewählte Buch, alles "mit sehr beschränkter Haftung", wie er auf der ausgeteilten Zusammenstellung betont. Die Auswahl reichte von "Sehr bemerkenswert" über "Lucernensia" bis zu "Es weihnachtet sehr", dazwischen gab's Klassiker, Graphic Novels, Sachbücher, Lyrik, Neues aus der Schweiz und aus der Welt. Selbst für regelmässige Feuilletonleserinnen und -leser war da zweifellos noch manche Neuentdeckung darunter. Oder kannten Sie zum Beispiel Jaroslav Rudis' "Gebrauchsanweisung für's Zugreisen" oder Gabriela Muris "Melvil oder Das verfügbare Gedächtnis"? Ich freue mich auf die Lektüre und jetzt schon auf Beat Mazenauers Beste 2022.
Sehr empfehlenswert sind auch die 3-Minuten-Video-Buchrezensionen, die Beat Mazenauer auf Vimeo hochlädt - inzwischen sind es rund 25, wunderbar ergänzt mit animierten Illustrationen von Anna Luchs.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Von Schöftland über Schilten nach Schöllanden
Das durch Hermann Burgers Roman "Schilten" im aargauischen Ruedertal berühmt gewordene Schulhaus liegt in Walde bei Schmiedrued. Jannis Zinniker unterrichtete und wohnte dort von 1967 bis 1972. In dieser Zeit besuchte ihn Hermann Burger mehrmals und liess sich durch den Ort, den Lehrer und die Geschichten von den Schülerinnen und Schülern zu seinem Roman inspirieren. Eine Wanderung zu "Schiltens" Geburtsort.
Schlierbach gibt es, Schöllanden nicht. Oder doch? In Hermann Burgers berühmtem Erstlingsroman „Schilten“ von 1976 ist Schöllanden offensichtlich Schöftland. Und irgendwo zwischen Schlierbach und Schöftland liegt Walde, ein Ortsteil von Schmiedrued, am Rande des Schiltwaldes, „der das sichelförmige Schilttal gegen Süden abriegelt“, am Ende des Ruedertals, wie es in der Realität richtig heisst. Und in Walde steht das alte Schulhaus mit dem Friedhof ennet der Strasse, heute eine Sonderschule, früher das Primarschulhaus für das hintere Ruedertal. „Eine Sektenkapelle mit halbamtlichem Einschlag“ und einer „hinterstichigen Landturnhalle“, wie es bei Burger heisst.
Zur letztjährigen Aufführung von „Schilten“ im Luzerner Theater hatte sich ein kleine Lesegruppe gebildet und sich mit dem Romanstoff auseinandergesetzt. Wir hatten uns damals vorgenommen, den Ort des Geschehens zu besuchen, verbunden mit einer kleinen Wanderung, von Etzelwil bei Schlierbach durch den Schiltwald nach Schmiedrued und dann mit dem Postauto nach Schöllanden äh Schöftland, wo es im „Ochsen“ vorzügliches Rehgeschnetzeltes gab, das uns der Wirt extra aufgespart hatte, obwohl die Wildkarte zwei Tage zuvor abgelöst worden war. Durch eine Burger-Karte? Wohl kaum, auch wenn Burger sich darüber halbtot gelacht hätte.
Die nicht-kulinarische Überraschung gab es schon in Schilten, also in Walde, wo ein älterer Herr zwischen Friedhof und Schulhaus auf uns wartete. Es war Jannis Zinniker, er hatte von 1967 bis 1972 im legendären Schulhaus unterrichtet und auch gewohnt. Burger und Zinniker hatten sich von einer gemeinsamen Lesung her gekannt. Germanistik-Doktorand und Jungautor Burger aus Burg bei Menziken kam dann öfters auf seinen Wanderungen bei Zinniker im Schulhaus vorbei, war fasziniert von den Räumen, der Turnhalle, die auch Abdankungsort war, von der Friedhofslage, auch von den Aufsätzen der Schülerinnen und Schüler. Gemeinsam tranken sie Tee, diskutierten und erzählten einander Geschichten. Und schon damals flunkerte der Wortartist und Hobbyzauberer, der bereits 1967 als 25-Jähriger einen Gedichtband mit dem Titel „Rauchzeichen“ publiziert hatte. Nach einer solchen Begegnung war sich Burger sicher, dass er den Stoff für seinen grossen Erstlingsroman gefunden hatte.
Eine viertelstündige Postautofahrt später, im „Ochsen“ dann, zückte Zinniker Diktate und Aufsätze seiner damaligen Schülerinnen und Schüler hervor und las wundersame Texte, die von Burger inspiriert waren und ihn dann auch wieder inspirierten zu seinem überquellenden Wortreichtum und seiner schier grenzenlosen Fantasie. Jannis Zinniker, der später Weitgereiste, der auch zwei Jahre bei den Mönchen auf dem Berg Athos gewohnt hatte, war sichtlich erfreut, diese 50 Jahre zurückliegenden Begegnungen mit dem 1989 verstorbenen Burger noch einmal erzählen zu dürfen, und wir genossen es bei einem vorzüglichen Ribera del Duero, der sicher auch Burger gefallen hätte, Literaturgeschichte aus erster Hand und in wunderbarer Gesellschaft erleben zu dürfen.
Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Neben den Lesungen fanden jedes Jahr verschiedene literatur- und kulturgeschichtliche Veranstaltungen statt, so zum Thema Lyrik in Luzern, Kriminalliteratur, Literatur und Politik , Verhältnis Islam/Judentum/Christentum, Literaturkritik, aber auch zu verstorbenen Autorinnen und Autoren wie Christian Morgenstern, Friedrich Dürrenmatt, Emily Dickinson, Ernst Zahn, Friedrich Glauser, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Gottfried Keller und Carl Spitteler.
Seit 2014 stellte Hardy Ruoss jeweils gegen Jahresende seine Lieblingsbücher der vergangenen Saison vor, 2018 übernahm Beat Mazenauer die Reihe unter dem Motto „Vielleicht beste Buchneuheiten“.
Zu weiteren Aktivitäten der LiteraturGesellschaft gehören Lesezirkel, die Durchführung von Workshops «Kreatives Schreiben» sowie Exkursionen.
Folgende Autorinnen und Autoren haben seit der Gründung der LiteraturGesellschaft Luzern 2013 gelesen:
2024
- Peter Stamm
- Tine Melzer
- Milena Michiko Flašar
- Matthias Zschokke
- Rebecca Salm
- Judith Keller
2023
- Franco Supino
- Alain Claude Sulzer
- Hansjörg Schertenleib
- Friederike Kretzen
- Ariane Koch
- Jubiläumsanlass 10 Jahre LGL mit Martin R. Dean, Katharina Lanfranconi, Urs Faes, Barbara Honigmann, Dana Grigorcea, Perikles Monioudis, Tabea Steiner, Melinda Nadj Abonji, Leo Tuor und Noëmi Lerch
- Ursula Fricker
- Angelika Overath
- Beat Mazenauers Best of 2023
- Christian Haller
2022
- Ursula Hasler Roumois
- Fabio Andina
- Melitta Breznik
- Dürrenmatt-Soiree mit Ulrich Weber und Walter Sigi Arnold
- Yael Inokai
- Sarah Kuratle
- Esther Kinsky
- Frédéric Pajak
- Catalin Dorian Florescu
2021
- Hildegard E. Keller
- Urs Faes
- Zora del Buono
- Flavio Steimann
- Thilo Krause
- Barbara Honigmann
2020
- Thomas Heimgartner
- Concetto Vecchio
- Raffaella Romagnolo
- Iso Camartin/Verena Füllemann
2019
- Hanspeter Müller-Drossaart
- Gianna Molinari
- Vincenzo Todisco
- Christina Viragh
- Anna Felder
- Usama Al Shamani
- Radka Denemarkovà
- Leo Tuor
2018
- Amsèl (Franziska Selma Muheim)
- Dieter Zwicky
- Silvio Blatter
- Jens Steiner
- Peter Weingartner
- Julia Weber
- Sabine Wackernagel
- Dana Grigorcea
- Lukas Hartmann
- Claudia Storz
2017
- Catalin Dorian Florescu
- Max Huwyler
- Trudi von Fellenberg
- Michelle Steinbeck
- Thomas Meyer
- Lydia Guyer-Bucher
- Beat Sterchi
2016
- Martin R. Dean
- Margrit Schriber
- Philipp Tingler
- Silvia Tschui
- Eveline Hasler
- Beat Hüppin
- Leta Semadeni
- Alexandra Lavizzari
- Jean-François Haas
2015
- Alois Koch, Wort und Musik (Vom Gregorianischen Gesang zum Gospel Song)
- Anselm Gerhard, Wort und Musik (Von der Oper)
- Michel Roth, Wort und Musik (Von der Literatur)
- Martin Schäfer, Wort und Musik (Von Songs und Blues)
- Konrad Rudolf Lienert (Grossneffe), Meinrad Lienert zum 150. Geburtstag
- Gertrud Leutenegger
- Anja Siouda
- Wolfgang Salzmann
- Matthias Lorenz
- Charles Lewinsky
2014
- Hans Leopold Davi
- La Lupa/Roger Girod, Eine musikalische Reise von Fabio Pusterla
- Raphael Urweider
- Lukas Hartmann
- Katrin Blum
- Simone Baumann
2013
- Peter von Matt
- Klaus Merz
- Alexandra Lavizzari
- Christian Uetz
- Ruedi Leuthold
- Anne Ruchat
- Lisa Elsässer